Um die Zahl kreist alles. Zehn Milliarden Menschen werden Mitte des Jahrhunderts auf der Erde leben – wie sollen sie satt werden? Mit dieser Frage konfrontiert der Bestsellerautor, Dokumentarfilmregisseur und Ernährungsaktivist Valentin Thurn seine Gesprächspartner in „10 Milliarden – Wie werden wir alle satt?“.
Zu Beginn des Films streift der Autor über einen thailändischen Markt. Der große Mann mit Glatze ragt auffällig über die Einheimischen hinaus. Dann schiebt sich Valentin Thurn genüsslich eine frittierte Heuschrecke in den Mund und referiert über Insekten als proteinreiche Kost der Zukunft. Die Szene legt nahe, dass nun eine selbsterfahrungsjournalistische Reise folgen wird, auf der Thurn – einigermaßen narzisstisch und subjektiv, das lässt sich bei diesem Konzept kaum vermeiden – vor der Kamera agiert, wie Werner Boote etwa in seinem durchaus spannenden „Plastic Planet“
(fd 39 732). Das liegt schon deshalb nahe, weil Valentin Thurn inzwischen eine Art Marke ist, ein Ernährungsguru: Nach seinem äußerst erfolgreichen Dokumentarfilm „Taste the Waste“
(fd 40 625) von 2011 über die Wegwerfgesellschaft und die Folgen der globalen Nahrungsmittelvernichtung, nach diversen Bestsellern zum Thema Ernährung, nach der Mitbegründung gemeinnütziger Internet-Plattformen und medialer Präsenz.
Tatsächlich aber hält sich Thurn anders, als der Beginn erwarten lässt, eher zurück. Er folgt recht sachlich der titelgebenden Frage, was allein schon deshalb gut ist, weil die komplexen globalen Zusammenhänge von versiegenden Ressourcen über Konzerne, Kleinbauern bis zum Konsumenten ansonsten möglicherweise allzu intuitiv zerfallen würden beziehungsweise weil der wenigstens gefühlte Zusammenhang dann maßgeblich von der Inszenierung der eigenen Person abhinge.
Mit Bedacht wählt er seine Gesprächspartner aus, die wahlweise auf der hellen oder der dunklen Seite der Macht stehen: Denn neutral ist „10 Milliarden – Wie werden wir alle satt?“ nicht. Auch wenn alle mit der gleichen Frage konfrontiert werden, macht Thurn keinen Hehl aus seiner – ohnehin allseits bekannten – Haltung. Platt provokativ geht er dabei allerdings auch nicht vor, Argumente, die etwa der Konzernsprecher von Bayer vorbringt, werden ernsthaft behandelt – und widerlegt. Das Loblied auf besonders hohe Erträge versprechendes Hybridsaatgut lässt Thurn in einem indischen Reisbaugebiet widerhallen: So ist dieses Saatgut nur bei der ersten Ernte so ertragreich und lässt sich nicht erneut aussähen – es zwingt also die Kleinbauern in eine Abhängigkeit von großen Konzernen. Außerdem hat es nicht über Jahrtausende eine Widerstandsfähigkeit gegen besondere klimatische Bedingungen – etwa Überschwemmungen – ausgebildet wie die regionalen Reissorten, was im Ernstfall existenzbedrohende Folgen haben kann. Eine Kette von Zusammenhängen führt Thurn rund um die Welt: Vom Bio-Landgut Hermannsdorfer in Glonn bei München zum indischen Geflügelzüchter, dessen Masthühner dem Wiesenhof-Geschlecht entstammen, vom höchst unsympathischen Großgrundbesitzer in Mozambique zu japanischen Laborsalaten.
Die Lebensmittelproduktion, sei es in ihrer unmittelbaren Auswirkung auf den Einzelnen oder in globalen Zusammenhängen, war seit Beginn des Jahrtausends Thema einer Reihe meist kritischer und stilistisch sehr unterschiedlicher Filme: Morgan Spurlocks im Kino sehr erfolgreicher Fast Food-Selbstversuch „Super Size Me“
(fd 36 576), Richard Linklaters fiktionale Variante „Fast Food Nation“
(fd 38 048), der für den „Oscar“ nominierte „Food, Inc. – Was essen wir wirklich?“ von Robert Kenner oder, im Subgenre des neuen österreichischen Aufklärungsfilms, die Dokumentarfilme „We feed the World“
(fd 37 595) von Erwin Wagenhofer und „Unser täglich Brot“
(fd 37 987) von Nikolaus Geyrhalter. Auf die kritische Perspektive folgte eine positive Annäherung: In Doris Dörries Dokumentarfilm „How to Cook Your Life“
(fd 38 161) über einen buddhistischen Koch, der durch die Welt reist, Kurse gibt, Kochbücher veröffentlicht und die Nähe zu den Lebensmitteln predigt, oder „Mit Mistgabel und Federboa – Farmer John“
(fd 38 320), in dem glückliche Kinder im Sinne einer bio-dynamischen Selbstvermarktungsstrategie mit Kohlrabis spielen. In der unmittelbaren Vergangenheit, seit 2011 etwa, ist die Welle der Filme zum Thema Ernährung etwas abgeebbt. „10 Milliarden – Wie werden wir alle satt?“ ist nun eine Art Hybrid: Ein kritischer Dokumentarfilm, der nicht aufdeckt, aber komplexe Zusammenhänge erhellt, mit Lösungsansätzen, maßgeblich für den Einzelnen, überall auf der Welt. Die Internetplattform tasteofheimat.de, die Valentin Thurn mit initiiert hat, kann dabei für weitere Hinweis genutzt werden.