Der Nebel hängt hartnäckig über Norfolk. Die ostenglische Grafschaft ist im Herbst ein diesiger, trüber Ort, der nicht dazu einlädt, draußen zu verweilen. So beschränkt sich auch die ehemalige Lehrerin Kate Mercer, die auch mit Ende 60 noch eine ziemlich aktive Frau ist, auf kurze Gänge, wenn sie ihren Hund ausführt; ihr Mann Geoff, früher Fabrikarbeiter und Gewerkschafter, igelt sich derweil zuhause ein und versucht sich zum wiederholten Male an der Kierkegaard-Lektüre.
In dieser betont unaufgeregten Stimmung lässt der Brite Andrew Haigh „45 Years“ beginnen und unterstreicht die Getragenheit mit lang gehaltenen Landschaftstotalen. Seine Hauptfiguren sind im Ruhestand augenscheinlich tatsächlich zur Ruhe gekommen. Eine etwas aufregende, aber willkommene Abwechslung in ihrem unspektakulären Alltag bringt da der 45. Hochzeitstag am folgenden Wochenende, für den noch die letzten Vorbereitungen organisiert werden müssen.
Zu der erwartbaren Aufregung vor dem Fest kommt jedoch schon in den ersten Filmminuten eine unvorhersehbare Nachricht hinzu. Geoff erhält einen Brief aus der Schweiz, der einen für längst abgeschlossen gehaltenen Teil seines Lebens wieder aufrührt. Bei einem Ski-Urlaub vor 50 Jahren ist seine damalige Freundin tödlich verunglückt; erst jetzt ist ihre Leiche aus einem Gletscher geborgen worden. Dramaturgisch ist das ein Paukenschlag, doch die Inszenierung behält ihre behutsam tastende Erzählweise bei. Was für eine Erschütterung der Brief auslöst, vermittelt sich dennoch, über prägnante Details: Die erste Zigarette seit Jahren, die sich Geoff mit unsicheren Händen ansteckt, Kates Bemerkung, nicht auf eine Liebesgeschichte aus der Zeit eifersüchtig sein zu können, als ihr Mann und sie sich noch gar nicht kannten. Was kaum ausgesprochen aber bei ihr einen Verdacht weckt, der sie ihr ganzes Leben mit Geoff hinterfragen lässt: Haben sie sich das beide gewünscht? Oder ist es für ihren Mann womöglich nie mehr als der Ersatz für seine unerfüllte erste Liebe gewesen?
„45 Years“ ist eine logische Fortschreibung von Haighs vorhergehendem Spielfilm „Weekend“
(fd 40 724), in dem er die Anfänge eines Verhältnisses zwischen zwei jungen Männern beleuchtete. Ging es dort unterschwellig um die Möglichkeit eines zukünftigen Zusammenlebens, stellt Haigh nun noch nachdrücklicher die Frage, was einer Beziehung Stabilität verleiht. In den wenigen Tagen, die der Film umfasst, entdeckt Kate immer weitere unbekannte Seiten an ihrem Mann, gegen die sie die Erinnerung an die gemeinsamen Erlebnisse in die Waagschale wirft. Haigh erzählt konsequent aus ihrer Sicht und entwickelt so eine bemerkenswerte Spannung aus vordergründig wenig auffallenden Beobachtungen und stillen Erwägungen, die für Kate mit Blick auf den Bestand ihrer Ehe existenzielle Bedeutung erhalten. Dass sie sich einst bewusst entschieden haben, keine Kinder zu bekommen, hat sie damals näher zusammengerückt, macht sie im Alter aber zu einem auf sich allein gestellten Paar. Selbst besondere Momente, die wirklich nur sie beide teilen – ein abendlicher Tanz zu ihrer Lieblingsmusik, der Versuch, nach langer Zeit wieder einmal miteinander zu schlafen –, scheinen von ihrer wachsenden Krise zu künden.
Die drängenden Fragen und schmerzhaften Überlegungen der Figuren spiegeln sich fast nur in ihren Gesichtern, auch wenn sie gelegentlich doch versuchen, ihren Gefühlen Luft zu verschaffen. Die Unsicherheit über ihr Verhältnis wird dadurch allerdings nur noch verstärkt, wenn mit einem Mal jeder Satz eine versteckte Bedeutung zu bekommen scheint. Die Schauspieler schaffen es meisterhaft, diesen intimen und zugleich gehemmten Umgang des Paars miteinander zu vermitteln. Tom Courtenay lässt eine faszinierend komplexe Gefühlswelt hinter der Verschlossenheit und den oft sprachlosen Gesten von Geoff aufscheinen, der bei aller Schroffheit nie mit Absicht die Frau verletzen würde, mit der er seit 45 Jahren zusammenlebt. Es ist die perfekte Ergänzung zum sensiblen Spiel von Charlotte Rampling, die das emotionale Wechselbad, dem Kate ausgesetzt ist, fast allein durch ihr vielschichtiges Mienenspiel auszudrücken vermag. Wenn sie mitunter mädchenhaft erstrahlt, um dann ernüchtert in kürzester Zeit vor der Kamera scheinbar um Jahre zu altern, offenbart sich darin mehr von Schmerz und Unsicherheit als durch jeden Gefühlsausbruch. In aller Stille entspinnt sich so ein außergewöhnliches Drama, das glaubhaft und anrührend vermittelt, wie unerwartete Herausforderungen selbst eine jahrzehntelange glückliche Bindung noch ins Wanken bringen können.