Die Anfangsszene macht Wim Wenders keiner nach: Eine verschneite Landstraße, ein Kinderschlitten, der Tomas, gespielt von James Franco, vors Auto flitzt. Vollbremsung. Ist dem Jungen, der starr auf dem Schlitten vor dem Kühler hockt, etwas passiert? Nein. Erleichtert bringt der Fahrer das schweigende Kind Huckepack zum Haus, das weithin sichtbar am Hang liegt. Er klingelt, die Mutter erblickt ihren Sohn Christopher, erschrickt, begreift, rennt hangabwärts zum Wagen. Was Tomas nicht ahnen konnte: Unter dem Auto liegt ihr anderer Sohn! Wenders zeigt das tote Kind nicht. Was nicht nur eine pietätvolle Geste, sondern eine kluge Auslassung ist. Als Leerstelle brennt sich der Verlust besonders tief ins Gedächtnis der Zuschauer.
Wim Wenders hat in den letzten Jahren interessante Dokumentarfilme geschaffen, doch im Spielfilmbereich ist ihm seit zwei Jahrzehnten nichts Herausragendes mehr gelungen. Vielleicht lag das auch an den Drehbüchern. Bjørn Olaf Johanessen hat ihm für „Everything Will Be Fine“ jetzt eine ebenso lockere wie stringente Originalvorlage konstruiert, an der Wenders sein offenbar ungebrochenes Talent für filmisches Erzählen endlich wieder beweisen kann.
Der Film handelt von den zwölf Jahren nach dem Unfall. Der Tod des Kindes, an dem niemand wirklich Schuld trägt, reißt Tomas in eine Krise. Sein Schreibtalent rettet ihn – und macht ihn zum gefeierten Schriftsteller. Romane schreiben als Therapie? Oder figuriert die Kunst hier als vermeintlich richtiges Leben, das es nach Adorno im falschen nicht geben kann?
Um Tomas herum gruppiert Wenders drei autarke Frauenfiguren: Kate, die Mutter des Toten, Tomas’ erste Freundin Sara und Ann, seine spätere Ehefrau. Die Brüche der Erzählkonventionen werden durch die Besetzung verstärkt: Man begreift nicht, wie Tomas die reizende Sara (Rachel McAdams) verlassen kann. Erwartungen, der Held könnte sich der alleinerziehenden Kate (Charlotte Gainsbourg) zuwenden, werden durchkreuzt. Ebensowenig steht Ann (Marie-Josée Croze) für das Hollywood-Klischee der erlösenden Kraft der Liebe, auch wenn diese Beziehung am Ende Bestand hat. Weil ihm die Gratwanderung zwischen Offenherzigkeit und melancholischer Verschlossenheit so spielend gelingt, ist James Franco als Tomas ideal besetzt – in einem Film, der von seelischer Heilung äußerst subtil, mit vielen Auslassungen, Diskontinuitäten und Ellipsen erzählt. Am Ende ist es der 17-jährige Christopher, Kates adoleszenter Sohn, der Tomas’ offene Wunde schließen hilft.
Wie häufig bei Wenders rankt sich die Geschichte um das Thema mangelnder Verantwortung. Einerseits fühlt sich Tomas Kate und ihrem überlebenden Sohn verpflichtet, andererseits verhindert er nicht, dass der Kontakt nach einiger Zeit abbricht. Tomas scheint seine Schuldigkeit getan zu haben, aber – und hier deutet sich ein Künstlerdrama an – dem Schriftsteller bleibt die Verantwortung für die Menschen, die seinen Romanfiguren zu Grunde liegen.
„Every Thing Will Be Fine“ ist der erste kontemplative Spielfilm in 3D. Wenders und sein Kameramann Benoît Debie wissen um die hyperrealistische Tendenz der Stereoskopie. In vielen Szenen verstärkt die Kamera die Künstlichkeit der Bilder, und in der Postproduktion wurde zudem die Farbsättigung verstärkt. Mitunter wird man an Douglas Sirks Filme aus den 1950er-Jahren erinnert, in denen sich die Buntheit mit dem Zerfall persönlicher Beziehungen steigert. In den sich jahreszeitlich wandelnden Landschaften und urbanen Settings der kanadischen Provinz Quebec wirken Wenders’ Figuren visuell mitunter ziemlich verloren. In Innenszenen gelingen dem Regisseur, auch dank der Darsteller, kammerspielhafte Momente. Wenders ist mit „Every Thing Will Be Fine“ nicht nur sein stärkster Spielfilm nach „Der Himmel über Berlin“
(fd 26 456) gelungen. Er dürfte dank der raffinierten Nutzung von 3D endlich auch wieder Filmgeschichte schreiben.