Gerade scheint die psychisch angeschlagene Mittdreißigerin Sandra soweit wieder stabilisiert, dass sie am Montagmorgen ins Arbeitsleben zurückkehren könnte. Da erfährt sie von ihrer Freundin Juliette, dass ihr Chef gerade die Kollegen vor eine Wahl gestellt hat: Weil Sandras Ausfall durch extra prämierte Überstunden gemeinsam kompensiert werden konnte, könne man doch ihre Stelle gleich ganz streichen und dafür die Prämie von 1000 Euro weiterhin zahlen. 14 der 16 Kollegen konnten diesem Angebot nicht widerstehen, allerdings, so Juliette, habe Vorarbeiter Jean-Marc auf die Mitarbeiter Druck ausgeübt, weshalb Sandra sofort handeln müsse. Tatsächlich gelingt es den beiden Frauen mit einiger Mühe, dem Chef eine Wiederholung der Abstimmung am Montagmorgen abzutrotzen, denn diesem ist hauptsächlich am Betriebsfrieden gelegen. Sandra hat jetzt ein ganzes Wochenende – zwei Tage und eine Nacht – Zeit, um für ihren Arbeitsplatz zu kämpfen.
Allerdings: Sandra ist keine Kämpfernatur, sondern bedarf der nachdrücklichen Unterstützung Juliettes und insbesondere ihres Mannes Manu, die sie mit Engelszungen beschwören, die Flinte nicht ohne Gegenwehr ins Korn zu werfen. So geschieht etwas Unerhörtes: Sandra, wiewohl zwischen Resignation und Selbstmord schwankend, nimmt den Kampf auf – und sucht das persönliche Gespräch mit den Kollegen, die sich eigentlich schon längst gegen ihr Verbleiben ausgesprochen haben. Nein, besser, für die Prämie. Genau das aber ist Sandras Chance auf ihrem unfreiwilligen Feldzug gegen die Entsolidarisierung der Gesellschaft: Sie konfrontiert – ungewöhnlich genug – ihre Kollegen mit sich, verleiht ihrem „Fall“ ein Gesicht, in das hinein man seine Entscheidung begründen muss.
Damit ist die Struktur von „Zwei Tage, eine Nacht“, dem neuen Film des belgischen Brüderpaares Jean-Pierre und Luc Dardenne, vorgegeben. Sandra mischt sich in das Wochenende ihrer Kollegen, trifft sie beim Sport, beim Autowaschen, beim Zweit-Job oder auf der Straße nach dem Frühschoppen. Manche lassen sich auf ein Gespräch ein, manche verweigern sich, manche lassen sich verleugnen, manche werden aus Scham aggressiv, manche machen auch keinen Hehl aus ihrem Egoismus. Die Zeit ist zwar knapp, aber die Zahl der Kollegen auch überschaubar. So gelingt es den Dardennes meisterlich, ein soziales Panorama vor dem Zuschauer auszubreiten, in dem Vielen ihr kleines Glück im Winkel wichtiger ist als eine Geste der Solidarität. Denn eine solche Geste ist kostspielig – und natürlich haben alle gute Gründe für ihr jeweiliges Verhalten, die Sandra durchaus auch verstehen kann. Ihr geht es ja nicht anders: Hausbau, Schulden, die Ausbildung der Kinder, die kleinen Extras, die man sich dank der Prämie nun leisten kann. Wie in einem klassischen Stationendrama wandert Sandra von Gespräch zu Gespräch und sammelt Erfahrungen, erfährt Ablehnung, aber auch spontane Zustimmung.
Dass sich Solidarität auch als Ausdruck christlicher Nächstenliebe verstehen lässt, erfährt Sandra vom farbigen Leiharbeiter Alphonse, der aber gleichzeitig auch Repressionen fürchtet, wenn er Sandra unterstützt.
Sandras Kollegen sind in unterschiedliche Macht-Positionen differenziert, was wie die gewählte Betriebsgröße, die zu klein für gewerkschaftliche Organisationsformen ist, für die präzise Recherche der Dardennes spricht.
Alles scheint an der Oberfläche vielleicht eine Spur zu modellhaft auf eine Art von Lehrstück getrimmt, aber beim genaueren Hinsehen zeigt sich die Arbeit der Dardennes als filmischer Realismus, der Beobachtungen verdichtet, anstatt vorgefertigte Thesen bloß zu bebildern. Trotzdem setzen die Filmemacher einen etwas forcierten moralischen Schlusspunkt, der sich zwar gut anfühlt, aber letztlich politisch folgenlos bleiben wird. Sandra hat es dem System noch einmal gezeigt, aber diese Geste zielt eher in den Zuschauerraum im Kino als in den Aufenthaltsraum der Kollegen im Film, in dem die geheime Abstimmung erfolgt. Doch auch auf die anderen Figuren im Film hat Sandras Initiative Wirkung gezeigt, wenn auch nur auf dem Niveau eines Hoffnungsfunken.