Ralph Fiennes präsentiert als Regisseur und Darsteller einen Film über eine heimliche Liebe des Dichters Charles Dickens.
Schritte knirschen auf dem Sand eines Strandes; eine Fahne raschelt im Wind; eine Schreibfeder kratzt über Papier; der Urinstrahl trifft plätschernd in ein Becken. In Ralph Fiennes' zweiter Regiearbeit „The Invisible Woman“, in der es fast keine Filmmusik gibt, kommt Geräuschen eine auffällige Präsenz zu. Da sie so in den Vordergrund treten, muss die Welt um sie herum wohl recht leise sein: eine schweigende Welt sozusagen.
Tatsächlich spielt das Schweigen in diesem Film, der von einer außerehelichen Liebschaft des Romanciers Charles Dickens erzählt, eine wichtige Rolle; er könnte statt „Die unsichtbare Frau“ auch „Die verschwiegene Frau“ heißen. Denn von dieser Liebe des verheirateten Autors zu der wesentlich jüngeren Nelly Ternan darf nichts bekannt werden; und nicht einmal die betroffenen Figuren scheinen offene Worte für das Verhältnis zu haben: Nellys Mutter äußerst nur in diskret indirekten Andeutungen ihre Besorgnis, als sie merkt, dass Nelly für Dickens, einen Freund der Familie, Gefühle entwickelt. Dickens’ Ehefrau nimmt die Untreue ihres Mannes mit stiller Fügsamkeit hin; erst als sie allein ist, gräbt sich das Schluchzen förmlich aus ihrem Körper heraus. In einer Rahmenhandlung sieht man schließlich, wie Nelly ihre schon Jahre zurückliegende Affäre mit dem mittlerweile verstorbenen Dichter eisern als Geheimnis hütet und ihre Unfähigkeit, über diese Liebe zu sprechen, wie einen Panzer mit sich herumträgt.
Der Zwang zur Diskretion
Fiennes macht aus Dickens’ historisch verbürgter Liaison mit der jungen Frau keinen Versuch à la „Shakespeare in Love“ oder „Geliebte Jane“, eine Episode aus dem Leben eines Dichters in eine Erzählung im Stil von dessen Werk umzumünzen. Stattdessen wagt Fiennes eine sensible „Einfühlung“ in die Lebens- und Liebesbedingungen eines Zeitalters: „The Invisible Woman“ handelt von der fatalen Diskretion einer Gesellschaft, bei der Gefühle in der Kunst zwar hoch im Kurs stehen – es ist die große Zeit der Oper und des Melodrams – , in deren wirklichem Leben Männern und vor allem Frauen eine radikale Kontrolle ihrer Gefühlen abgenötigt wird.
Nelly hat in dieser viktorianischen Gesellschaft von vornherein eine etwas prekäre Position: ihre verwitwete Mutter arbeitet als Schauspielerin, und die Töchter scheinen ihr auf diesem Berufsweg zu folgen – kein Status, der soziales Ansehen einbringt, was es umso wichtiger macht, den guten Ruf durch einen untadeligen Lebenswandel zu bewahren. Felicity Jones spielt Nelly als Mädchen, das vielleicht unerfahren ist, aber absolut nicht dumm oder naiv: Nelly weiß, welches Risiko sie eingeht, als sie sich darauf einlässt, Dickens‘ Geliebte zu werden. Und sie kennt den Preis: unsichtbar zu werden, schweigen zu müssen, nichts nach außen dringen lassen.
Charles Dickens wird weder romantisiert noch vom Podest geholt
Der britische Dichter wird mit dieser filmischen „Entlarvung“ seiner Affäre weder romantisiert noch vom Podest geholt. Fiennes zeigt ihn als vielschichtigen Charakter, der neben liebeswürdigen und charismatischen Seiten durchaus auch egoistische und manipulative Züge hat. Im Fokus steht aber nicht er, sondern die weibliche Hauptfigur. Deren Liebe erscheint weniger als Aufbäumen der Leidenschaft gegen triebfeindliche Fesseln denn als sachte Annäherung an einen Mann, für den sie ein tiefes Verständnis hat, sowie die Sehnsucht, sich ihm zu öffnen – eine Liebesutopie, die durch den äußerlichen Zwang zur Diskretion aber immer wieder an Grenzen stößt.
Es sind interessanterweise keine von Dickens' großen Romanen, die in diesem ebenso klugen wie bewegenden Film eine Rolle spielen, dafür jedoch Theaterarbeiten: In der Rahmenhandlung inszeniert Nelly als Lehrerin an einer Jungen-Schule mit den Kindern „No Thoroughfare“, ein Stück von Dickens und seinem Freund Wilkie Collins; das erste Treffen zwischen Dickens und Nelly findet ebenfalls bei einer Theaterinszenierung statt, bei der Dickens als Regisseur und Nelly als Ensemble-Mitglied Collins’ „The Frozen Deep“ auf die Bühne bringen. In weiteren Szenen sieht man Dickens bei einer öffentlichen Lesung, bei der er wie ein Schauspieler einen seiner Texte zum Leben erweckt, und als Redner bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung, bei der er mit bewegenden Worten die gesellschaftliche Ignoranz gegenüber sozial Verelendeten anprangert. Diese „Auftritte“ vor Publikum passen motivisch wunderbar zu den Spannungen, die der Film erkundet: zwischen öffentlicher Rolle und Privatem, zwischen gesellschaftlicher Maske und emotionaler Aufrichtigkeit, zwischen dem „Spielraum“ Kunst, in dem mittels Sprache große Emotionen beschworen werden, und dem realen Leben, in dem so vieles ungesagt bleiben muss.