„Nymphomaniac – Teil 1“
(fd 42 203) endete mit Joes Feststellung, dass sie beim Sex nichts mehr fühle. Das ist ein clever gesetzter Cliffhanger des in der Originalfassung über fünf Stunden langen Films von Lars von Trier, der nun auf zwei Teile von jeweils rund zwei Stunden zurechtgestutzt ins Kino kommt. Joes Erkenntnis ist der „turning point“ des Films, dessen erster Teil kein herber Porno, sondern ein feinfühliges Psychodrama ist.
Es ist auch der Wendepunkt in Joes Biografie, die ihr Leben bis dahin als abenteuerlichen Ritt auf den Wellen sexueller Erregung empfand. Mitten im fünften der acht Kapitel endet der erste Teil, just hier setzt „Nyphomaniac - Teil 2“ wieder ein. Joe liegt nach wie vor im Bett. Seligman, der sie einige Stunden zuvor verletzt auf der Straße auflas, sitzt auf einem Stuhl daneben. Er hatte Joe aufgefordert, ihre Geschichte zu erzählen. Und sie erzählte unverblümt von Kindheit und Jugend, ihrer Zuneigung zu ihrem Vater, der Entdeckung von Geschlechtlichkeit und Libido sowie ihren wilden jungen Jahren erzählt. Seligman kommentierte diese Entäußerungen mit assoziativen Bemerkungen zu Kunst, Literatur, Musik und Religion, womit er ihnen den vermeintlich unmoralischen Stachel zog und Joes persönliche Geschichte in die große Geschichte der Menschheit einbettete.
Noch einmal blendet „Nymphomaniac“ zurück. Während eines Schulausflugs liegt die zwölfjährige Joe abseits ihrer Kameraden auf einer Wiese. Sie staunt zum Himmel hoch und erlebt eine verzückende Vision der Gottesmutter. Die Ärzte aber diagnostizieren einen epileptischen Anfall. Für Seligman ist klar, dass Joe nicht die Madonna, sondern Valeria Messalina und die Hure Babylon erschienen sind. Wie so oft in diesem Film rückt Seligmans Kommentar Joes Erzählung in anderes Licht. Diesmal aber irritiert dies Joe so sehr, dass sie Seligman fragt, warum er anders als andere Männer auf ihre Erzählung so erregungslos reagiere. Er sei asexuell, antwortet Seligman. Das klärt und verkehrt die Positionen der zwei Protagonisten und verpasst ihrer Begegnung fortan die Komponenten des ewigen Kräfteringens von weiblicher Verführung und männlichem Widerstand. Damit ändert sich die Tonalität des Films. Er wird aggressiver und Joes Erzählung derber. Das hat aber auch mit dem Lebensalter der Protagonistin zu tun. Denn fortan ist Joe (die nun von Charlotte Gainsbourg gespielt wird) erwachsen. Sie wird Mutter, lässt um ihrer Lust willen aber den Sohn immer mehr im Stich. Sie habe ihm jahrelang Geld überwiesen, ihn aber nie wiedergesehen, gesteht sie Seligman.
Es sind nicht Joes zunehmend perverse Sexpraktiken und -erlebnisse, ihr Abenteuer mit zwei Schwarzen, ihre sadomasochistische Beziehung mit K. oder ihr Abrutschen in die Unterwelt, sondern der Umstand, dass sie dafür ihre Gefühle sowie Sohn und Gatte verrät, die „Nymphomanic - Teil 2“ zum erschütternden Erlebnis machen: Joe ist unübersehbar eine Seelenverwandte der dysfunktionalen Mutter aus „Antichrist“
(fd 39 475) oder der gefühlsgestörten Protagonistin aus „Melancholia“
(fd 40 662) –und „Nymphomaniac“ somit der meisterhafte Abschluss der von Trierschen Trilogie zur Depression.
Zumindest in der Kinofassung verpasst von Trier dem Film mit einer unerwarteten Wendung in letzter Sekunde ein entsetzliches Ende. Kann sein, dass dies in der ungekürzten Version weniger unverhofft ausfällt. Im Gegensatz zum ersten Teil, wo die Kürzungen nur im unmittelbaren Vergleich auffallen, wird man bei der Kinoversion von „Nymphomaniac – Teil 2“ den Eindruck nicht los, permanent Wichtiges zu verpassen. So wird beispielsweise ausführlich die Begegnung mit „the dangerous men“ angekündigt, doch dann streiten sich die beiden Schwarzen, mit denen Joe ins Hotel geht, lediglich kindisch um ihre Positionen, und man begreift überhaupt nicht, wieso Joe plötzlich entsetzt Reißaus nimmt. Solche Lücken sind mehr als schade bei einem Werk, das man liebend gern in der ungekürzten Länge sehen und dann vielleicht doch etwas anders beurteilen würde, als man dies nach Sichtung der Softversion nun tut.