Drama | Dänemark/Schweden/Frankreich/Deutschland 2011 | 135 Minuten

Regie: Lars von Trier

Am Beispiel zweier Schwestern, von denen eine melancholisch-depressiv, die andere sehr pragmatisch ist, entwirft Lars von Trier einen Abgesang auf die bürgerliche Welt, an dessen Ende der Weltuntergang steht. Der Film erzählt mit abstrakter Reduktion ausgerechnet anhand einer Hochzeitsfeier von existenzieller Leere und Verzweiflung, ohne eine Hoffnung auf Transzendenz oder Erlösung einzuräumen. Dabei gewinnt die kunstsinnig verrätselte Reflexion über den Tod erst mit der apokalyptischen Wendung dem Blick auf die Charaktere eine gewisse Zärtlichkeit ab. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
MELANCHOLIA
Produktionsland
Dänemark/Schweden/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Zentropa Ent./Memfis Film/Zentropa Int. Sweden/Slot Machine/Liberator Prod./Zentropa Int. Köln/Film i Väst/DR/Arte France Cinéma
Regie
Lars von Trier
Buch
Lars von Trier
Kamera
Manuel Alberto Claro
Schnitt
Molly Malene Stensgaard
Darsteller
Kirsten Dunst (Justine) · Charlotte Gainsbourg (Claire) · Kiefer Sutherland (John) · Charlotte Rampling (Gaby) · John Hurt (Dexter)
Länge
135 Minuten
Kinostart
06.10.2011
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Endzeit-Film
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Concorde
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Diskussion
Zu den dunkel-sehnsuchtsvollen Klängen von Richard Wagners „Tristan und Isolde“-Ouvertüre beginnt der Film mit einer Nahaufnahme auf das Gesicht von Kirsten Dunst. Sie hat die Augen nahezu geschlossen, ihre Haut ist totenblass. Auch ohne Titel oder Informationen über den weiteren Verlauf sorgen dieser Gesichtsausdruck, die Musik und die langsame Zeitlupenbewegung der Kamera im Nu für prononcierte Weltschmerz-Atmosphäre, für ein intensives Gefühl von pathosgetränkter Tristesse und wehmütiger Hilflosigkeit. Dann schlägt die junge Frau die Augen auf. Im Folgenden sieht man eine Vision: Ungewöhnliche galaktische Phänomene – drei Monde stehen am Himmel –, ein menschenleerer Golfplatz, ein Rappen, der im Gras versinkt wie in Morast, Vögel, die tot vom Himmel fallen, ein Gemälde von Pieter Bruegel („Der Jäger im Schnee“), das verbrennt. Dann liegt Dunst nackt im Mondlicht, von Pflanzen umschlungen, in einer Art Erwartungshaltung. Kleine Blitze umzüngeln ihren Körper. Bis ein riesiges Himmelsgestirn auf die Erde schlägt und diese zerbersten lässt. Die Szenen sind hyperreal ausgeleuchtet, wie eine Theaterbühne. Nach diesem so apokalyptischen wie verwirrenden Prolog, in dessen Schatten der weitere Film steht, folgt der erste von zwei Hauptteilen: Er heißt „Justine“. Dunst spielt die jüngere von zwei Schwestern. Im Brautkleid ist sie mit ihrem Bräutigam in einer weißen Limousine auf dem Weg zu ihrer prächtigen Hochzeitsfeier, die von ihrer Schwester Claire und deren reichem Gatten in überquellendem Luxus ausgerichtet wird. Sie findet mit Blick aufs Meer in einem großzügigen Landsitz im Stil des 19. Jahrhunderts statt. Materiell fehlt es den Hochzeitsgästen offenkundig an gar nichts. Livriertes Personal bedient, es gibt Speisen aller Art, viel Tradition und alte Hochzeitsbräuche. So sollen die Gäste die Zahl der Bohnen in einem Glasgefäß erraten; Justine wird später diejenige sein, die auf die genaue Zahl kommt: 678. Bei der Feier begegnet man indessen einer brutalen, kalten Atmosphäre, eine innerlich leeren Eleganz, einer ermüdeten Bourgeoisie voll dunkler Seiten, vor allem in der Familie selbst: Ein schwacher Brautvater, eine cholerische Mutter, Ehen, die getrennt sind oder nicht funktionieren – verlogen sind sie alle. Justine ist offenbar schwer depressiv, und ihre Ehe wird die Hochzeit nicht überstehen. Sollbruchstellen sowie feinere wie gröbere Risse in der Fassade allerorten. Nicht zuletzt die Braut selbst weiß den Pomp und Aufwand offenkundig wenig zu schätzen und lässt an ihrer Gleichgültigkeit und Langeweile gegenüber allem kaum Zweifel aufkommen. Chaos und Tabubrüche, seelische Verletzungen nehmen rasch zu: Justine, deren Name nicht von ungefähr an den gleichnamigen Roman von de Sade erinnert, nimmt sich einen jungen Arbeitskollegen zum öffentlichen sexuellen Akt und pinkelt ebenso coram publico auf den Golfplatz. Man fühlt sich schnell an „Das Fest“ (fd 33 486) erinnert, an dem Lars von Trier ebenfalls Teil hatte. Auch „Das Weiße Band“ (fd 39 527) kommt einem in den Sinn, mit seiner scharfen Introspektion der bürgerlichen Rituale und ihrer Abgründe. „Melancholia“ kann deshalb als Lars von Triers Version eines kritischen Porträts der zeitgenössischen, im fortschreitenden Verfall befindlichen bürgerlich-„melancholischen“ Gesellschaft erscheinen, hinter deren prächtiger Fassade sich ein Abgrund an Amoral und Verzweiflung auftut. Im Wechselspiel nimmt „Melancholia“ schon früh zwei Perspektiven ein: Den kosmologischen Blick, unter dem die Menschen ganz klein werden – eine überraschende Gemeinsamkeit mit anderen aktuellen Filmen, allen voran Terrence Malicks „Tree of Life“ (fd 40 488), der in einigen planetarischen Einstellungen wie ein Zwillingswerk zu „Melancholia“ wirkt, um sich dann aber auf einer ganz anderen Umlaufbahn zu bewegen. Zugleich aber erzählt „Melancholia“ die Geschichte von Justine und Claire, den ungleichen Schwestern. Der zweite Teil des Films trägt Claires Namen. Er spielt an den Tagen nach der missglückten Hochzeit und ist von der Nachricht geprägt, dass ein meteorenähnlicher Planet an den nächsten Tagen knapp an der Erde vorbeirasen soll. Justine und ihre pragmatische Schwester aber ahnen, dass Schlimmeres bevorsteht. Am Ende des Films tritt dann die Katastrophe ein: der Weltuntergang! Von Trier inszeniert all dies mit abstrakter Reduktion, Zeitlupen und viel opernhaftem Pathos. Im Vergleich zu „Tree of Life“, aber auch zu von Triers eigenen Filmen ist „Melancholia“ fraglos kühler, ironischer. Lars von Trier glaubt nicht an Gott, aber ans Ende der Welt, und teilt uns diese Gewissheit mit sarkastischem Vergnügen mit. Man kann den Film stilistisch allzu bemüht finden. Doch der visionären Kraft seiner Bilder, ihrer Eleganz und dem erzählerischen Mut kann man sich kaum entziehen. Stilistisch leistet Lars von Trier entschiedenen Widerstand gegen den Untergang. Nicht gegen den der Welt, aber gegen den des Kinos. Mit seinem Bekenntnis zur Bilderzählung, zu Opulenz und gestalterischer Konsequenz. Er wehrt sich gegen grassierende Tendenzen des Weltkinos, die längst auch das Kunstkino jenseits des Mainstreams infiziert haben: Populismus und Re-Literarisierung – also ästhetische Kompromisse im Namen der „Zugänglichkeit“, in denen das, was man überwunden glaubte, ungeniert zurückkommt. Von Trier setzt dem ein Kino als originäre künstlerische Vision und seinen Grundsatz „no more happy endings“ entgegen. Und er lotet die Schattenzonen des menschlichen Daseins aus: Lügen und Depression, Schmerz und Handlungslähmung. Ihn deswegen zu einem Vertreter der Gegenaufklärung zu stilisieren, ginge aber zu weit. Denn von Trier wählt im Gegensatz zu anderen keineswegs einfache Ausflüchte. So sehr sein Bild-Repertoire hier der europäischen Romantik verpflichtet ist, so ist dies doch nicht die „blaue Blume“ eines Novalis, keine der Vernunft entgegengesetzte Gefühligkeit und trotz der Musikwahl auch nicht Wagners Versuch einer Remythologisierung. Sondern es sind die Traditionen einer Mary Shelley, eines Byron, von Kleist und des frühen Schlegel: Skepsis, der illusionslose, kritische Blick auf die Dinge, der Verzicht auf den quasireligiösen Fortschrittsoptimismus und schließlich das ironische Spiel mit unangenehmen Einsichten. Bei aller Freude an der Provokation, die sein Schaffen durchzieht, fehlt es hier keineswegs an Demut. „Leben gibt es nur auf der Erde – und nicht für lange Zeit“. Vielleicht ist diese im Film formulierte Einsicht, die tatsächlich Grund zur Melancholie geben kann, die tiefere Motivation für diesen Film. Wo andere die Heiligkeit des Lebens feiern, entfaltet von Trier einen apokalyptischen Abgesang und stellt seine Zuschauer vor existentielle Fragen nach dem Leben im Angesicht des Endes, ohne dass es eine Hoffnung auf Transzendenz geben würde. Bei Claire dominieren zunehmend Angst und Panik, während Justine (auch hierin, wie in ihrer Depression, das offene Alter Ego ihres Regisseurs) im Angesicht des Endes immer ruhiger wird und so etwas wie Frieden findet. Je näher dieses Ende rückt, umso zärtlicher erscheint nun auch der Blick des Regisseurs auf seine Figuren. „Melancholia“ ist damit in aller Größe auch etwas ganz Einfaches: Ein Film über den Tod, der ja für jeden Einzelnen eine Art individuellen Weltuntergang bedeutet, und über die Liebe, nicht „zum Leben“, aber zu den einzelnen Menschen.
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