Dokumentarfilm | Deutschland/Ägypten 2013 | 93 Minuten

Regie: Marco Wilms

Eine spannende, materialreiche, aber auch offen Partei ergreifende Langzeitdokumentation, die eine Gruppe junger ägyptischer Künstler, die den revolutionären Aufbruch als Befreiung erleben, durch die Höhen und Tiefen der politischen Umbrüche begleitet. Der Film dokumentiert, mit welcher Entschlossenheit die Mubarak-Gegner den öffentlichen Raum in Kairo gegen alle Widerstände zu behaupten versuchen; dabei konfrontiert er hautnah mit den Geschehnissen und vermittelt viel über Revolution und Konterrevolution, wobei trotz aller Skepsis letztlich die Hoffnung auf Veränderung überwiegt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ART WAR
Produktionsland
Deutschland/Ägypten
Produktionsjahr
2013
Produktionsfirma
Heldenfilm/ZDF
Regie
Marco Wilms
Buch
Marco Wilms
Kamera
Marco Wilms · Abdelrahman Zin Eldin · Emanuele Ira · Bashir Mohamed Wagih · Ali Khaled
Musik
Ramy Essam · Bosaina + Wetrobots
Schnitt
Stephan Talneau
Länge
93 Minuten
Kinostart
23.01.2014
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
missingFILMs/Indigo (16:9, 1.78:1, DD2.0 dt. & arab./dt.)
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Diskussion
Es könnte so einfach sein. Hübsch aufklärerisch und tolerant heißt es einmal: „Es gibt so viele Wege zu Gott wie Seelen auf der Erde.“ Doch dann läuft der streitbare Politologe Hamed Abdel-Samad, der man in Deutschland als Sidekick von Henryk M. Broder aus „Entweder Broder – Die Deutschland Safari“ kennt und der jüngst wegen seines mysteriösen Verschwindens in Kairo für ein paar Tage in den Schlagzeilen war – mit einem „teuflischen“ T-Shirt durch Kairo, auf dem „God is busy. Can I help you?“ steht. Harmlos? Durchaus nicht. Man wird Zeuge, wie Abdel-Samad auf offener Straße von Anhängern der Muslimbrüder als Gotteslästerer angefeindet wird, wie sein lässig-ironischer Umgang damit allmählich in Ernst umschlägt, wie seine Rhetorik nicht verfängt, bevor er sich in Sicherheit bringen muss. Fast wäre er gelyncht worden, sagt er später, nur halbherzig spottend. Der Filmemacher Marco Wilms, 1966 in Ost-Berlin geboren, hat diese Eskalation, von der erregten Menge offenbar unbemerkt, mit der Kamera hautnah dokumentiert. Wilms war im Frühjahr 2011 nach Kairo geflogen, um ein Porträt des streitbaren Abdel-Samad zu drehen, doch dann wurde dieses vergleichsweise konventionelle Projekt von der Revolution gewissermaßen dynamisiert und zugleich geerdet. Der geplante Porträtfilm verwandelte sich in eine Langzeitdokumentation über Revolution und Konterrevolution, Euphorie und Enttäuschung, Selbstermächtigung und reaktionärem Roll-Back, Feier und Trauer, Skepsis und Staunen. Wilms bezieht dabei unmissverständlich Stellung. Er schlägt sich auf die Seite junger Künstler, die den Aufbruch als Befreiung erleben – und ihre unverhoffte Chance trotz aller Gefahren mit großem Engagement und einer großen Portion rebellischem Humor ergreifen. Und so begegnet man in kleineren und größeren, aber stets sehr eindrucksvollen Auftritten dem Musiker Ramzy, den Künstlern Ganzeer und Ammar sowie der Elektro-Punk-Sängerin Bosaina, die besonders nachdrücklich ihre individuellen Freiheitsrechte einfordert, aber erschüttert reagiert, als sie von einem konservativen Publikum ausgebuht wird. Besonders interessant sind die Passagen, die die Graffiti-Künstler bei der Arbeit zeigen. Nicht einmal Facebook und die Mobiltelefone hatten im Verlauf der ägyptischen Revolution eine ähnliche Bedeutung wie die Wandmalereien. Einmal heißt es treffend: „Die Mauer ist die Wandzeitung der Revolution!“ Man sieht, wie sich die unterschiedlichen Parteien gegenseitig dabei beobachten, wie sie „die Mauern“ in ihrem Sinne instrumentalisieren und sich dann wechselseitig durch Übermalung kommentieren. Auch die Gegenseite kommt in „Art War“ zu Wort, aber stets in einer Art und weise, die sich selbst entlarvt, wenn eine Fatwa verhängt wird, Weltanschauungspolizei gespielt wird oder zu Bildern vom Tahrir-Platz gehöhnt wird, dass sich dort ja ohnehin nur bezahlte Junkies und Prostituierte versammelten. Wie seine selbstbewussten Protagonisten scheint der Film die Entschlossenheit der Muslimbrüder allerdings lange zu unterschätzen: Man ist mit der eigenen subversiven, extrem provokanten Kunst schon zwei, drei Schritte weiter Richtung „Westen“; rappt zu HipHop-Rhythmen, solidarisiert sich mit der Femen-Aktivistin Allia Al-Mahdy, die sich auf ihrem Blog nackt präsentierte, und lässt sich von der Resonanz dieser Performance selbst wieder inspirieren. Und muss dann umdenken und im Februar 2012 überlebensgroße Märtyrer-Porträts an die Mauern malen, um der Toten von Port Said zu gedenken. Und den Wahlerfolg Mursis er- bzw. davor und danach blutige Straßenschlachten durchleben. Wird Augenzeuge, wie die Armee Mursi stürzt und die Luftwaffe Herzen in den Himmel malt. Gegen den grassierenden Graffiti-Tourismus sertzt die Opposition dann aber auf die Strategie, Bilder der Toten mit ihren Verletzungen in aller Drastik zu veröffentlichen. So werden die Mauern der Mohammed-Mahmud-Straße zum „Gedächtnis der Revolution“, sie „bezeugen, was geschah“. Als die Wandmalereien entfernt werden sollen, setzen sich viele zu Wehr, weil sie etwas anderes zeigen als die Medienbilder. In gewisser Weise erhält auch „Art War“ eine analoge Vermittlungsfunktion: der Film zeigt eine Gesellschaft im Übergang, die zwischen Tradition und Moderne zerrissen ist. Wenn man Hamad Abdel-Sawad darin folgt, dass Revolution ein Motor der Geschichte ist, dass es weniger um Erfolg oder Scheitern geht, sondern vielmehr um Veränderung geht, dann kann man das Geschehen in Ägypten seit 2011 positiv werten. Der Film macht aber auch klar, dass die Entwicklungen am Nil noch sehr lange aufmerksam beobachtet werden müssen. Zumal die letzten Toten des Films auf Seiten der Muslimbrüder zu beklagen sind.
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