Drama | Deutschland 2013 | 110 (24 B./sec.)/106 (25 B./sec.) Minuten

Regie: Katrin Gebbe

Ein entwurzelter Jugendlicher schließt sich in Hamburg den „Jesus Freaks“ an und fühlt sich damit endlich der Welt gewachsen. Dann aber gerät er in den Bann eines sadistischen Mannes, der seine Stieftochter missbraucht. Der Junge versucht, das Mädchen zur Flucht zu überreden, ohne auf die Qualen zu achten, denen er sich dabei aussetzt. Ein außergewöhnlicher Debütfilm über einen frommen Toren, der sich aus Naivität und religiösem Wahn opfert. Das hervorragend inszenierte Drama konfrontiert mit extremer Gewalt und abgründigen Erfahrungen. Ein dunkler, verstörender Film, der zwischen metaphysischer Parabel und abseitigem SM-Drama changiert.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2013
Produktionsfirma
Junafilm/ZDF (das kleine Fernsehspiel)
Regie
Katrin Gebbe
Buch
Katrin Gebbe
Kamera
Moritz Schultheiß
Musik
Peter Folk · Johannes Lehniger
Schnitt
Heike Gnida
Darsteller
Julius Feldmeier (Tore) · Sascha Alexander Gersak (Benno) · Annika Kuhl (Astrid) · Swantje Kohlhof (Sanny) · Til Theinert (Dennis)
Länge
110 (24 B.
sec.)
106 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
28.11.2013
Fsk
ab 16; f
Genre
Drama
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Diskussion
„Jesus, zeig mir den Weg“, betet Tore nach seiner Taufe in der Elbe. „Ich glaubʼ an Dich. Was können mir die Menschen schon tun?“ Der schüchterne Teenager hat Anschluss an die „Jesus Freaks“ in Hamburg gefunden, einen wilden Haufen „frommer“ Punks, die Jesus zu ihrem Idol erkoren haben. Das Tattoo auf seinem schmächtigen Rücken, „Teach me Lord“, gibt in dem Debütfilm von Katrin Gebbe die Richtung vor: Mit Jesus fühlt sich Tore endlich der Welt gewachsen; nun kann ihm nichts mehr passieren. Doch das bezwingend inszenierte Drama führt in dunkle, verstörende Gefilde. Es erzählt vom schockierenden Martyrium eines Verlorenen, der sich aus Naivität und religiösem Wahn opfert. Denn Tore nimmt das Gebot der Feindesliebe wörtlich; er läuft nicht weg, als er missbraucht wird, denn er will dem Bösen widerstehen und andere nicht ihrem Schicksal überlassen. Nach seiner Taufe hüpft Tore ausgelassen im warmen Licht der Sonne herum, was ihn fast durchsichtig erscheinen lässt. Eine Engelsgestalt, blond, unschuldig, fast nicht von dieser Welt. Doch dann lernt er Benno kennen, einen bulligen, dunkelhaarigen Mann, der mit seiner Familie in einer Schrebergartensiedlung haust. Was sich für den entwurzelten Teenager zunächst wie ein kleines Wunder ausnimmt, eine Bleibe, Essen und zaghafte Gefühle für die 15-jährige Sanny, entpuppt sich als Falle, denn Benno neigt zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen. Der erste Schlag scheint noch ein Versehen zu sein, doch immer deutlicher mischt sich sadistische Lust in die Tritte und Demütigungen. Tore sucht Hilfe bei Jesus, doch der antwortet nicht; der Himmel hängt schwer über der Gartensiedlung. Obwohl sich die Übergriffe zügig ins Monströse steigern, harrt Tore aus, weil er spürt, dass Benno sich an Sanny vergeht. Er will sie beschützen und überreden, mit ihm abzuhauen. Aber Sanny ist hin- und hergerissen, zumal Tore ihre sexuelle Annäherung brüsk zurückgewiesen hat: „Jesus Freaks heiraten zuerst“. Während eines epileptischen Anfalls steht plötzlich Jesus neben ihm und hält ihm seine blutenden Hände hin: die Aufforderung, es ihm gleich zu tun. Der Film hat bei seiner Weltpremiere in Cannes heftige Reaktionen provoziert, laute Buhrufe und begeisterten Beifall. Beides lässt sich gut nachvollziehen. Die Inszenierung ist bestechend souverän, für ein Debüt sogar außergewöhnlich. Vom ersten Augenblick an gelingt es, eine abgründige Ambivalenz ins Spiel zu bringen, die Gegenläufiges andeutet. Bei der Taufe wechseln Licht und Schatten, die Soundcollage bringt metallisch-verzerrt Tragisches ins Spiel, auf Tores Unschuldsaura antwortet Bennos schwarzes „Tribal Tattoo“, im Finale bricht sich Tores Blick im Laub der Bäume, durch die eine herbstlich-goldene Sonne glitzert, während in der Parallelmontage Sanny und ihr kleiner Bruder den Rucksack packen und das Weite suchen, die Hauptdarsteller sind perfekt gecastet und spielen überzeugend, die prägnante Kapitelstruktur (Glaube, Liebe, Hoffnung) unterstreicht christlich-theologische Subtexte, Kamera und Schnitt leisten Phänomenales. Doch wie man den Film interpretiert, der mit seinen ausgeblichenen Farben und den sich steigernden Torturen eine extreme (Horror-)Erfahrung zumutet, hängt stark davon ab, ob man sich auf die Entwicklungsgeschichte des Sozialdramas einlässt oder die parabelhaften Züge stärker akzentuiert, die vor allem im letzten Akt überhand nehmen. Beide Sichtweisen, die sich nur schwer miteinander kombinieren lassen, haben ihre Grenzen: die Leidensgeschichte eines eltern- und heimatlosen Findelkindes gerät zwischen die Mahlsteine einer kruden Jesus-Esoterik; und die metaphysische Gut-Böse-/Licht-Dunkel-/Erlösungs-Verdammnis-Parabel verliert sich sexistisch-degoutant im SM-Gay-Milieu. Der Film meidet zwar geschickt eine allzu plumpe Allegorisierung, doch Tores „Kreuzweg“ als Sexsklave im Männerpuff ist mehr als ein „kranker Deal“, den Sanny hinter Bennos plötzlichem Reichtum vermutet: Hier purzelt eine (unreflektierte?) Homophobie in die weltanschaulich-theologischen Leerstellen der Populärmythologie. Die Provokation des heiligen Toren wäre ohne Leidensüberhöhung, aber mit einem Schuss gesunden Menschenverstandes deutlich härter ausgefallen.
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