Auf einem Bahnhof kämpft eine junge Frau gegen den Strom der Reisenden, sie drängt aufgeregt nach vorne, kann nicht warten. Die Handkamera heftet sich an ihren Körper; sie folgt ihren hektischen Bewegungen und ihren suchenden Blicken, bis sie einer anderen Frau in die Arme fällt. Von diesem Moment an ändert sich schlagartig die Dynamik des Films und die der Figuren: die anfängliche Unruhe von Voichiţa wandert auf ihre Freundin Alina über, die nun ganz Bewegung und Aufruhr ist. Sie selbst wirkt plötzlich wie still gestellt, ebenso wie die Kamera, die fortan vor allem die lange Einstellung sucht – und einen offeneren, räumlicheren Blick auf die Figuren und ihre Umgebungen. Zudem verlässt der rumänische Regisseur Cristian Mungiu die letzten Überbleibsel eines urbanen Settings, das in „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“
(fd 38 441) noch so prägend war. „Jenseits der Hügel“ spielt in einem abgelegenen orthodoxen Kloster, im armen Landstrich der Moldau, Voichiţa lebt dort als Nonne. Am Brettertor hängt ein Schild: „Kein Zutritt für Andersgläubige“.
Die falschen Fährten zu Beginn sind bezeichnend für Mungius autoritären, in formaler Hinsicht sicherlich kunstvollen Stil, der sich hinter der vermeintlich neutralen Protokollierung sozialer Strukturen verbirgt. Von Anfang an hängt über „Jenseits der Hügel“ eine bleischwere Stimmung und ein rigider Tonfall; jedes Bild, jeder Blick und jedes gesprochene Wort erzählt davon, in welch miserablem Zustand die Welt im Allgemeinen und die rumänische Gesellschaft der Post-Ceaușescu-Ära im Besonderen sich befinden. Dabei besitzen Mungius Beobachtungen der Klosterorganisation grundsätzlich interessante Aspekte, gerade wenn er sie auf ihre ökonomischen und sozialen Bedingungen hin untersucht. Einige Male wird erwähnt, dass das Kloster nicht gesegnet wurde, weil die Kapelle keine Malereien besitzt; die Arbeiten mussten wegen Geldknappheit eingestellt werden. Mungiu schildert eine Parallelwelt, abgetrennt vom gesellschaftlichen Leben und von der Gegenwart, es gibt weder Strom noch fließend Wasser, doch beim genauem Hinsehen erkennt man hinter all der Abschottung Risse, fließende Übergänge: tatsächlich scheint das von einem Abt geleitete Kloster für die Mehrzahl der Nonnen weniger ein aus religiöser Überzeugung gewählter Ort zu sein als eine Art Auffanglager – für Frauen, die in ihrer ökonomischen (oder häuslichen) Not keinen anderen Platz gefunden haben, Frauen wie Voichiţa. Umgekehrt ist religiöse Einfalt auch in der säkularen Gesellschaft zu finden: etwa wenn der Arzt Alina nicht nur Psychopharmaka verschreibt, sondern ihr ernsthaft verordnet, die Psalmen zu lesen.
Bevor „Jenseits der Hügel“ zum Exorzismusdrama wird, das seine strapaziösen Details in fast von-Trier-hafter Manier ausbreitet, nur gänzlich ohne dessen humoristische Brechungen, scheint vor allem ein Liebesfilm durch. Die beiden Frauen verbindet eine gemeinsame Kindheit und Jugend in einem Waisenhaus in Rumänien, eine Erfahrung, aus der wohl mehr als eine Freundschaft hervorgegangen ist. Alinas Verzweiflung und Rebellion, deren Ursache in Voichiţas Weigerung liegt, der Freundin nach Deutschland zu folgen, ist im Kern ein Drama um Eifersucht, Verlustangst und nicht gelebte Sexualität (woraus der Film allerdings ein ziemliches Geheimnis macht); es geht dabei auch um die Konkurrenz der irdischen Liebe zur Gottesliebe. Nun sitzt Alina in ihren bunten Trainingsanzügen wie ein Fremdkörper inmitten der Nonnen und der Schwarz-Grau-Braun-Palette des Films; und ihre ehemalige Geliebte ist Teil davon. Ihre körperlichen Anfälle und verbalen und sozialen Überschreitungen sind Ausdruck einer überwältigenden Ohnmacht.
„Jenseits der Hügel“ lehnt sich lose an einen realen, einige Jahre zurückliegenden Fall an, bei dem eine junge Novizin in einem Kloster an den Folgen eines Exorzismus starb. Das Verhältnis zwischen Psychiatrie und Religion hat Hans-Christian Schmid in „Requiem“
(fd 37 501) weitaus präziser bearbeitet. Mungius Haltung ist von einem grundsätzlich abschätzigen Tonfall begleitet und bleibt vage, gerade weil er an allen Stellen Gleichgültigkeit diagnostiziert: im Kloster, das für Alinas existentielle Verzweiflung keinen anderen Begriff findet als Besessenheit, bei den Ärzten in den hoffnungslos überlasteten Kliniken, in dem Patienten sich notfalls ein Bett teilen müssen, bei Alinas Pflegefamilie, die sie nicht mehr aufnehmen will. Trotz der minutiösen, ausgedehnten Erzählweise bleibt bei Mungiu alles Andeutung, Verschleierung – und falsch verstandene Subtilität: das sexuelle Verhältnis der beiden Frauen, die Umstände der Nacktaufnahmen im Waisenhaus, Alinas Beschäftigung in Deutschland, ihr psychischer Zustand, der mal nachvollziehbar erscheint, dann aber wieder durch Hinweise auf Schizophrenie in ein anderes Licht gerückt wird. Wenn Mungiu das letzte Bild des Films auch noch mit einer Ladung dreckigen Schneematschs zukippt, ist das nicht mehr als die dogmatische Geste eines Regisseurs, der es sich in seinen intensiven Elendsbeschreibungen allzu komfortabel eingerichtet hat.