Die schwarzen Männer haben Macheten in der Hand, mit denen sie das Zuckerrohr schneiden. Trotzdem wagt es der schmächtige Weiße, sie mit einem Spottlied zu reizen. Er verschwendet keinen Gedanken daran, dass einem der Männer aus Zorn die Machete ausrutschen könnte. Zu Recht: Die Männer ertragen die degradierenden Verse mit der Geduld von Lämmern. Eine andere Szene: Im Hintergrund sind die Hütten der Sklaven auf einer Plantage und das alltägliche Kommen und Gehen zu sehen. Im Vordergrund: Ein großer Baum; an einem Ast hängt ein Seil, und in der Schlinge am Ende steckt der Kopf eines schwarzen Mannes. Die Füße des Gehenkten können gerade noch so den Boden berühren, sodass er nicht erstickt; befreien kann er sich nicht, da seine Hände gefesselt sind. Das Perfide in dieser Einstellung: Es ist, als hätten Vorder- und Hintergrund nichts miteinander zu tun. Obwohl die weißen Henker längst verschwunden sind, traut sich keiner der anderen Sklaven, dem Gehenkten zu Hilfe zu kommen. Als eine Frau es irgendwann doch wagt, dem Mann wenigstens etwas Wasser zu bringen, tut sie das in ängstlicher Hast und sucht gleich wieder das Weite.
Regisseur Steve McQueen dehnt solche Szenen schmerzhaft aus. Sie bilden den Kern dessen, was ihn an seiner Vorlage, dem realen Schicksal des Solomon Northup, interessiert, eines Schwarzen, der im 19. Jahrhundert in den Nordstaaten als freier Mann und Familienvater lebte, dann gewaltsam in den Süden verschleppt und zwölf Jahre lang als Sklave gehalten wurde, bevor es Freunden gelang, ihn zu befreien. McQueen analysiert – und da weitet sich sein Film vom Historischen ins Zeitlose – , was die Sklaverei mit einem Menschen macht, wie sich die Rechtelosigkeit, die Unterdrückungsmechanismen und Angst vor Gewalt und Willkür in die Körper und in die Seelen einschreiben. Und wie fragil die Identität des Menschen als „freier Bürger“ ist, wenn sie sich ohne (staatliche) Schutzmacht behaupten muss. In dem Schiff, in dem Solomon gen Süden verschleppt wird, sind außer ihm noch viele schwarze Schicksalsgenossen. Die Anzahl der weißen Besatzung ist dagegen ziemlich klein. Ließe sich da nicht der Aufstand proben? Einer von Solomons Mitgefangenen verneint das: Unter den Schwarzen seien nur drei „Männer“; der Rest seien „Nigger“, und die seien unfähig zu kämpfen. Das ist kein Rassismus, es ist eine Beobachtung dazu, was ein gesellschaftliches System aus einem machen kann. Später im Film – am absoluten Tiefpunkt von Solomons Erniedrigung –greift er selbst auf Befehl seines Herrn zur Peitsche und schlägt eine andere Sklavin bis aufs Blut.
Im Vergleich zu Steve McQueens vorherigen Spielfilmen, „Hunger“
(fd 39 428) und „Shame“
(fd 40 933) ist sein neues Werk weniger kühl und eingängiger in seiner Erzählweise, ohne allerdings ganz zum konventionellen Melodram zu werden. Zwar ist die von Chiwetel Ejiofor verkörperte Hauptfigur im Vergleich zu den autoaggressiven Figuren, die Michael Fassbender in den beiden vorherigen Filmen verkörpert hat, wesentlich mehr eine Identifikationsfigur, der man angesichts des schreienden Unrechts, das ihr angetan wird, Empathie entgegen bringen kann. Trotzdem beschränkt sich McQueen nicht darauf, einen Passionsweg nachzuzeichnen und den Zuschauer zu rühren und zu erschüttern; dazu ist sein Film zu unangenehm auch in dem, was er über die Opfer erzählt. Die Inszenierung bändigt zudem immer wieder den emotionalen Überschuss des Stoffes. Dazu trägt der dosierte Einsatz der Musik ebenso bei wie eine chronologische Schleife, die von der Erzählgegenwart erst zurück in die Vergangenheit führt, bevor sich die Ereignisse weiter entwickeln. Die oftmals lang gehaltenen Einstellungen lassen dem Zuschauer Raum, über die emotionale Reaktion hinaus über das Gezeigte nachzudenken. Außerdem flankiert McQueen seine Hauptfigur mit interessanten Nebenfiguren, die zeigen, wie sehr hier nicht nur die schwarzen Sklaven systematisch korrumpiert werden, sondern auch die Weißen. Das fängt beim ersten „Herrn“ Solomons an (Benedict Cumberbatch), der sich zwar gerne menschlich gegenüber den Sklaven verhalten würde, aber dabei immer wieder an die Grenzen des für ihn wirtschaftlich Machbaren stößt (und nicht mutig genug ist, diese zu überschreiten), und gipfelt in der Darstellung des Plantagenbesitzer-Ehepaars (Michael Fassbender und Sarah Paulson), bei dem Solomon sein größtes Martyrium erleidet: Von der ungetrübten Lust am Bösen, wie sie Leonardo DiCaprios grausamer Plantagenbesitzer in „Django Unchained“ an den Tag legte, kann da nicht die Rede sein, eher von der Flucht in die Neurose, um das eigene perverse Lebenskonstrukt – das „familiäre“ Zusammenleben mit Menschen, denen das Menschsein aberkannt wird – durchhalten zu können.
Sowieso ist „12 Years a Slave“ so etwas wie die ernüchternde Antwort auf „Django Unchained“
(fd 41 500). Wo Tarantino seine Sklaverei-Geschichte den erlösenden Genrekino-Mechanismen überantwortete, sie in einer kathartischen Gewaltorgie kulminieren und das heldenhafte Individuum über seine Peiniger triumphieren ließ, bleibt McQueens Figur angesichts der Entrechtung nur eine einzige, schwache Bastion für Selbstbehauptung: seine Bildung. Als gelernter Schreiner und Musiker verfügt er über Kenntnisse, die ihn für seine Herren wertvoll machen, und er ist des Schreibens mächtig – was ihn hoffen lässt, irgendwie einen Brief zu seinen Angehörigen im Norden auf den Weg zu bringen und von ihnen Hilfe zu bekommen. Soweit die Zerstörung dieses Mannes durch das Unrechtsregime, in das er gerät, auch geht, findet sich hier im besten aufklärerischen Sinne eine Keimzelle der Veränderung, die sich auch mit Gewalt nicht ausrotten lässt.