Auf der Wasseroberfläche bricht sich das schwindende Licht; in der Dämmerung ist der See verlassen. Entschlossen krault Michel auf den nur zögernd brustschwimmenden Franck zu. Wiederholt ist am Ufer von einem riesenhaften Wels die Rede, groß wie ein Hai, der angeblich in dem überschaubaren Gewässer zu Hause sei. Ein See, sein Ufer, das Wäldchen und der staubige Parkplatz dahinter: Hier spielt „Der Fremde am See“ von Alain Guiraudie.
In einer surrealen Szene streift ein Mann durch das Wäldchen auf der Suche nach Frauen. Er spricht Franck an, ob er welche gesehen habe. Franck versichert ihm, dass er hier definitiv am falschen Ort sei. Denn dieses Ufer und das Wäldchen sind ein Cruising-Spot; hier treffen sich Männer, um nackt in der Sonne zu liegen, zu schwimmen, sich wechselseitig zu betrachten und um Sex zu haben in den mehr oder weniger einsichtigen Séparées, die das hohe Gras, die Büsche und Bäume in dem lichten, hügeligen Laubwald bieten.
Erst nach etwa der Hälfte des Films fallen die Namen zweier Hauptfiguren. Das zeigt ganz gut, worum es nicht geht; Henri, der dritte Mann in dieser reduzierten Dreiecksgeschichte, erwähnt es einmal explizit: der persönliche Hintergrund, das, was einer macht, sei unerheblich. Am See spielt das keine Rolle. Pornographisch direkt, naturalistisch, fast dokumentarisch zeigt Guiraudie den schwulen Sex, die scheinbar unkomplizierte Promiskuität; explizite Sexszenen machen einen erheblichen Teil des Films aus. Der Thriller-Plot, der nach einer Weile einsetzt, wirkt trotzdem nicht wie eine Alibi-Handlung. Er sickert gewissermaßen schon vorher in den Film, über die Anonymität, die Eifersucht, das Misstrauen oder die Naivität der Männer und unterminiert das offensiv sorglose Treiben.
Franck ist naiv, zutraulich und offen, auch physisch ein knabenhaft-schlaksiger Typ. Er hält nichts von Safer Sex; in einem Dialog mit einem Sexualpartner kommt das lakonisch-komisch zum Ausdruck. Franck spricht auch den älteren und körperlich unattraktiven Henri offenherzig an, der sich von den anderen Blick- und Sonnenbadenden separiert; nicht nur räumlich, sondern auch dadurch, dass er stets seine kurzen Hosen anbehält und lediglich das T-Shirt ablegt. Henri wird zu einer Art väterlichem Freund für Franck, vom Leben enttäuscht, auf einer unbestimmten Suche und doch in sich ruhend, philosophiert er mit dem Jüngling über Liebe, Sex und Freundschaft. Von Michel dagegen, der mit seiner durchtrainierten, braun gebrannten Erscheinung und dem Schnauzbart an Tom Selleck erinnert, fühlt sich Franck körperlich stark angezogen: Er verliebt sich in den undurchsichtigen Mann.
Atmosphärisch bewegt sich „Der Fremde am See“ irgendwo zwischen den zynischen Versuchsanordnungen eines Michel Houellebecq und den abgründigen Meditationen François Ozons. Guiraudie zieht den Zuschauer mit seinem visuellen und akustischen Minimalismus, der Monotonie der tagesrhythmischen Wiederholungen fast soghaft in seine überzeugend wahrhaftig wirkende Version eines schwulen Sommers am See. Die Kamerafrau Claire Mathon arbeitet dabei nur mit natürlichem Licht, es gibt keine Musik. Die Autos fahren auf den anfänglich leeren Parkplatz, der Gang durch das Wäldchen, nackte Körper sind durch das Gras zu erkennen, leise die Geräusche von Sex zu hören. Dann die Blicke der Männer, die bereits am Ufer liegen, der Blick vom See auf die Nackten und durch Äste und Gräser auf verschlungene Körper. Ein Handtuch liegt leer in der Sonne, ein roter Renault (das einzige bunte Auto) bleibt einsam auf dem Parkplatz stehen. Niemand scheint sich daran zu stören, alles geht weiter wie gehabt. Etwas deplatziert wirkt in diesem zunehmend düsteren Reigen dann der Kommissar, der den Tod eines jungen Mannes im See untersucht. Dürr und gebückt, mit Brille und hinter dem Rücken verschränkten Armen, schleicht die camphaft klischierte Figur durch die Szenerie.
Jetzt hat Franck Angst. Er steht im Wäldchen: Dort ist es in der Dämmerung schon dunkel. Nur die Vögel zwitschern noch.