„Von der Trägheit der Materie, dieser dem Tanze entgegenstrebendsten aller Eigenschaften, wissen sie nichts: weil die Kraft, die sie in die Lüfte erhebt, größer ist, als jene, die sie an die Erde fesselt.“ Das schreibt Heinrich von Kleist in seiner Schrift „Über das Marionettentheater“ zum Tanz der Puppen. Auch der Kaspar Hauser, den Regisseur Davide Manuli in seiner surrealen Schwarz-Weiß-Fantasie präsentiert, scheint unter seinen großen Kopfhörern selbstbezogen von der „Trägheit der Materie“ befreit und instinktiv zum Tanz zu streben. Die Mittelmeerinsel (gedreht wurde auf Sardinien), an dessen Strand dieses mysteriöse Zwitterwesen Kaspar Hauser, gespielt von der androgynen Silvia Calderoni, gespült wird, scheint kaum bewohnt, aber alle Bewohner, die man kennenlernt, sind Funktionsträger. Es gibt eine Herzogin, einen Diener, einen Priester, einen Sheriff, einen Drogenhändler, eine Hure und einen Bauern mit seinem Maultier. Man kennt einander auf dieser Insel, ist teilweise miteinander verwandt, ist von einander bis zum Überdruss abhängig. „Wir haben nur die Drogen!“, sagt der Priester einmal, der wie der Sheriff der Insel vom Pusher mit Stoff versorgt wird. In diesen in Ritualen erstarrten Kosmos bringt Kaspar Hauser leichthin Bewegung, obwohl der Findling wenig mehr tut als zu den Klängen in seinem Kopf zu tanzen oder in der Gegend herum zu stehen. Dennoch verhält man sich zu dem mysteriösen Wesen mit dem Namen-Tattoo auf der weiblichen Brust. Ist er/sie der verschollene Thronfolger? Ist er ein Heiliger? Ein Alien? „Io sono Kaspar Hauser!“ – viel mehr hat das Objekt der Projektionen dazu nicht zu sagen. Als die eifersüchtige Gräfin einmal versucht, hinter die „wahren“ Absichten des Clowns zu kommen, bleibt sie erfolglos. Also lässt sie ihn als „Betrüger“ ausrufen, was das Skandalon, die Leere dieser Figur verfehlen muss, aber Wirkung zeitigt. Die anderen Figuren setzen sich also, mal mehr, mal weniger, zu Kaspar Hauser in Beziehung. Mal ist man „Buddy“ wie der Sheriff, mal ist man Fan wie die Hure, mal ist man Konkurrent wie die Gräfin, mal auf der Suche nach Sinn wie der Priester. Einmal heißt es sehr schön: „Kaspar ist ein guter DJ. Er bringt alle zum Tanzen.“ Insbesondere für den Priester ist die Unbestimmtheit des Findlings ein interessantes Objekt, bei dem man „viel interpretieren muss“. Weil Hauser aber wenig mehr als „unz unz unz“ zu ihm sagt, muss der Priester, nach eigener Aussage ein Fixer mit Flausen im Kopf, aus sich selbst schöpfen: Er projiziert seine Vorstellungen des „Heiligen“, das immer etwas seltsam sei, auf sein Gegenüber.
Man sieht: Davide Manuli hat sich nicht lumpen lassen und bekannte Versatzstücke der Kaspar Hauser-Legende in seinen Film eingebaut. Sogar an einem Hinweis auf die bekannte Verschwörungstheorie fehlt es nicht, allerdings gebrochen durch einen etwas schrägen Humor. Mehrfach gibt Hauser an, er wolle wie sein Vater ein Ritter (it. „calvaliere“) werden. Leider wird dieses „interessante“ Statement entweder überhört oder aufgrund von Übertragungsfehlern zu „Er will ein Pferd (it. „cavallo“) werden!“ transformiert.
Doch die Energie der totalen und entgrenzten Überkandideltheit, die von diesem Film ausgeht, hat mit der Legende gerade nichts zu tun. Sie bildet gewissermaßen nur den losen Rahmen für eine Szenenfolge von Merkwürdigkeiten, die immer wieder hermeneutische Anstrengungen in erstaunliche Dancefloor-Ekstasen aufgehen lässt. So selbstbezogen Kaspar Hauser dabei agiert, so expressiv gibt sich der famose Vincent Gallo, der hier gleich in einer Doppelrolle als geheimnisvoller Pusher und als Sheriff glänzt. Insbesondere seine exzentrische Performance als mit Südstaatenakzent knurrender Westerner, der sein Geld schon mal mit DJing verdient, ist schlicht umwerfend.
Strukturiert werden die wunderschönen Plansequenzen mit ihren weitgehend improvisierten Szene durch den wuchtigen Electro-Sound von Vitalic, weshalb der Film auch als Rave-o-lution-Utopie durchginge. Und da gleich zu Anfang und am Schluss ein paar fliegende Untertassen vom Pusher in Disco-Pose begrüßt werden, und Kaspar Hauser, als er beim Pinkeln ermordet wird, einen UFO-Overall trägt, muss man dieses surreale, aber höchst unterhaltsame Experiment wohl als Post-Science Fiction-Dance-Western bezeichnen.