Anhand eines Zeichenkurses, in einem Safaripark in Quebec sowie in der Werkstatt eines Tierpräparators reflektiert der experimentelle Film Blick- und Wahrnehmungsverhältnisse, wobei stets eines im Zentrum steht: die Tierbetrachtung – und zwar im Verhältnis zum Raum. Dafür verzichtet die Inszenierung weitgehend auf Totalen und konzentriert sich auf Details; in den stillen, präzisen Einstellungen tritt das Thematische zugunsten der Kontemplation zurück. So eröffnet sich ein dialogfreier Projektionsraum, in dem der Tierpark ebenso fremd erscheint wie seine Bewohner und Besucher. Ist „Bestiaire“ in Wahrheit sogar ein Gefängnisfilm? (O.m.d.U.)
- Ab 14.
Bestiaire
Dokumentarfilm | Kanada/Frankreich 2012 | 72 Minuten
Regie: Denis Côté
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Filmdaten
- Originaltitel
- BESTIAIRE
- Produktionsland
- Kanada/Frankreich
- Produktionsjahr
- 2012
- Produktionsfirma
- Metafilms/Le Fresnoy Studio National des Arts Contemporains
- Regie
- Denis Côté
- Buch
- Denis Côté
- Kamera
- Vincent Biron
- Schnitt
- Nicolas Roy
- Länge
- 72 Minuten
- Kinostart
- 25.04.2013
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
Tierfilme oder Filme, die Tiere zeigen, sind zuallererst Filme über den Blick des Menschen auf das Tier. Entsprechend beginnt auch „Bestiaire“ mit einem Blick: man sieht das Gesicht einer jungen Frau in Großaufnahme, ihre Augen, die sich abwechselnd heben und senken, wobei allein das Geräusch eines kratzenden Stifts ihre Tätigkeit verrät. Das Tier tritt zunächst nur in indirekter, vermittelter Form in Erscheinung. Als Abbild – eine Tierzeichnung, die auf einem Papier langsam Gestalt annimmt –, schließlich als Tierpräparat, das einer Zeichenklasse als „totes Modell“ dient, und erst in einem letzten Schritt als lebende Spezies, als Körper: eine Büffelherde beim Grasen im Winter, eingezäunt in einem Gehege.
Neben dem Zeichenkurs und der Werkstatt eines Tierpräparators zählt ein Safaripark in Quebec zu den Schauplätzen des Films von Denis Cotés. Doch auch wenn sich mit der Einrichtung Zoo als verwalteter und domestizierter Raum animalischen Lebens zwangsläufig Fragen nach dem Verhältnis von Mensch und Tier und dem damit verbundenen Machtgefälle aufdrängen, ist „Bestiaire“ vor allem eines: Tierbetrachtung – und zwar im Verhältnis zum Raum.
Coté reiht statische Kameraeinstellungen aneinander, nüchtern und kommentarlos, wobei das Thematische zurückgedrängt wird zugunsten reiner Kontemplation. Mit dem Zoo rückt aber auch eine überaus eigenwillige Architektur in den Fokus, die ganz zwangsläufig etwas mit den Tieren „macht“. Cotés präzise kadrierten Bilder spielen dabei ganz bewusst mit den auch formalästhetischen Effekten, die das Zusammenspiel von Raum und Tier erzeugen: in einer Einstellung konterkarieren die Hörner eines Widders die Vertikalen und Horizontalen der Zooarchitektur, in einer anderen ragen die langen Hälse einer Gruppe von Straußen wie ein Gewirr von Stangen hinter einer Tür empor. Oder es schieben sich plötzlich zwei Hörner von unten ins Bild hinein und bewegen sich wie bei einem Puppentheater hin und her –nicht ohne eine gewisse Komik.
Die Größenverhältnisse sind ein wesentliches Gestaltungsmittel des Films. Einmal vergrößert ein Spiegel die räumlichen Dimensionen eines Vogelkäfigs, doch sobald das Tier seine riesigen Flügel aufspannt, verstellt es nahezu das gesamte Bild und scheint aus den Begrenzungen des Raums förmlich auszubrechen. Oftmals aber nehmen die Tiere nur einen kleinen Teil des Bildes ein – Coté spielt hier auch mit dem Verhältnis von Fläche und Raum, wenn er bevorzugt Wände (horizontal oder vertikal strukturierte Flächen wie Bretterverkleidungen) als Hintergründe wählt.
Der Film verzichtet weitgehend auf Totalen, stattdessen werden dezidiert Details in den Blick genommen: aufgeregt schürfende Beine von Zebras, Hörner und Fell, aber immer wieder auch Tiergesichter, die auf den Betrachter zurückblicken und damit die Blickordnung für einen Moment lang umdrehen. Durch Cotés ausschnitthafte Betrachtung treten zudem Farben und Sounds überscharf hervor: die verschiedenen Schattierungen an Grau- und Brauntönen von Tierfellen, Betonwänden und Metalltüren, von Stroh und Kot. Und: Geräusche wie das Anschlagen und Gerüttel an Metalltüren, das Scharren der Hufe, die schallenden Töne vom Öffnen und Schließen der Gehege. Nicht zuletzt bietet sich „Bestiaire“ trotz seines ideologiefreien Ansatzes als Projektionsraum an: Hat man es bei den apathisch wirkenden Tieren mit schwer depressiven Geschöpfen zu tun? Ist „Bestiaire“ in Wahrheit nicht ein Gefängnisfilm?
Gelegentlich öffnet sich der Film auch in Richtung eines vermeintlichen Dokumentarismus und zeigt Angestellte des Tierparks bei der Arbeit, bei Fütterungen und Reinigungsarbeiten oder auf der „Rückseite“ der Gehege, in Lagerräumen. Doch inmitten der Architektur aus Gängen, Gehegen und Zäunen wirken sie plötzlich ebenso fremd wie die Tiere.
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