Es war einmal ein kleiner Junge, der träumte von Monstern unter dem Bett. Nicht unter seinem Bett wohlgemerkt, und es waren auch keine Alb-, sondern eher Wunschträume. Es sollten Betten sein, unter denen wirkliche Monster leben, die im Zweifel erscheinen, um die Schlafenden mit Grimassen aus ihren Träumen zu wecken. In der Welt, in der sich Tim Burton seit Kindertagen wähnt, sind Monster ein natürlicher Teil des Lebens, etwa der Poltergeist Betelgeuse (Beeteljuice), den man nur unbedacht herbeirufen muss, damit er einem das Leben zur abenteuerlichen Hölle macht. Was passiert, wenn man einem kleinen Jungen mit zu viel Fantasie viel zu früh James Whales „Frankenstein“ (fd 5747) zu sehen gibt, hat hat Burton als 13-Jähriger seiner Familie vor Augen geführt: Home Movies der grotesk gruseligen Art.
Mit 26 Jahren konnte Burton – dank eines richtigen Drehbuchs und unterstützt von einer richtigen Produktionsfirma namens Walt Disney – einer bescheiden großen Öffentlichkeit seine Version von „Frankenstein“ präsentieren. 30 Minuten lang, mit versierten Stars wie Shelley Duvall und Daniel Stern, einem kleinen Jungen und dessen Hund, der erst vom Auto überfahren wird und dann durch die Erfindungsgabe des Jungen wieder von den Toten aufersteht. „Frankenweenie“ bedeutete Burtons abruptes Ende bei Disney, wo man ihn feuerte, weil der Film angeblich „abwegig“ und wenig familientauglich sei – und der furiose Auftakt seiner Weltkarriere. Nun sollte man Jugendwerke eigentlich ruhen lassen, zumal wenn man derart viel überschüssige Schöpferkraft hat, um Figuren wie Betelgeuse, Edward mit den Scherenhänden, Jack Skellington oder Barnabas Collins zum Leben zu erwecken. Doch weitere 28 Jahre später sollte es also ein zweites Mal der kleine Victor Frankenstein sein, der mit der göttlichen Elektrizität aus den Wolken experimentiert, um etwas zum Leben zu erwecken, das besser im nahen Tierfriedhof am Berg von New Holland geblieben wäre. Diesmal ist „Frankenweenie“ kein Real-, sondern ein Trickfilm, ganz im Stop-Motion-Geist von „Nightmare before Christmas“
(fd 31 095) produziert; nicht in der überbordenden Buntheit von „Alice im Wunderland“
(fd 39 777), sondern in gräulichem, stereoskopischem Schwarz-Weiß.
Der neue „Frankenweenie“ beginnt mit den gleichen Bildern wie der alte aus dem Jahr 1984: mit einer Reminiszenz an Burtons eigene Kindertage, in denen er, vielleicht nicht unähnlich seinem Alter Ego Victor, die Vulkan speiende Fantasiewelt mit Pappmaschee und seinem Hund Sparky als Drachen lebendig werden ließ, um sie auf Super-8-Film festzuhalten. Im Kern ist auch die danach folgende Handlung mit der Version von 1984 identisch: Victor spielt Ball. Der Ball rollt, Autoreifen quietschen. Sparky wird beerdigt. Victor erinnert sich an das Frosch-Experiment in der Schule. Der Dachboden wird zum Geheimlabor. Gewitter. „It’s alive!“ Niemand darf Sparky sehen. Er wird entdeckt. Tumult. Die Lage eskaliert. Sparky kann nichts dafür. Die Hatz beginnt. Showdown an der New Holland Mühle. Das Monster muss sterben! Das Monster ist kein Monster!! Es lebe das Monster!!!
Doch wie soll man diese Geschichte, die in 30 Minuten keine Fragen offen ließ, auf 80 Minuten ausbauen, ohne sie zu zerdehnen und zu zerstören (und damit auch das Original)? John August, Burtons Drehbuchautor von „Dark Shadows“
(fd 41 081) und „Tim Burton’s Corpse Bride“
(fd 37 296) hat sich einige zauberhafte Erweiterungen, Ergänzungen und Wendungen einfallen lassen. Vor allen üblichen Elementen, die mit einem größeren Budget und den Möglichkeiten des 1984 technisch noch nicht Realisierbaren einhergehen, hat sich August um Nebendarsteller gekümmert: Victor hat Freunde und Klassenkameraden bekommen, etwa Elsa van Helsing, eine Art Freundin und Retterin in der Not, oder Edgar „E“ Gore, einen Intriganten sondergleichen. Victor muss sein Geheimnis nicht nur vor seinen Eltern und Nachbarn verheimlichen, sondern auch vor den Kindern, was viel schwerer fällt und schließlich auf fatale Weise misslingt. Um Edgar zum Schweigen zu bringen, wiederholt er das Experiment mit dessen Goldfisch – erfolgreich, aber mit bizarren Langzeitfolgen. Auch die anderen Kinder der Clique bekommen ihre Monster, die – im Gegensatz zu Sparky – auf ungeheuerliche Weise mutieren und die Stadt zerstören wollen. So müssen Sparky, Victor und Elsa zu Monsterjägern werden, um die Stadt zu befrieden, wobei sie ihr Leben riskieren.
Burton ist nicht nur ein Meister der Stop-Motion-Animation, der mit seiner Fantasie und den formenden Händen seiner Helfer die Künstlichkeit der „Knet“-Figuren vergessen macht; er weiß auch, wie er seiner Geschichte Substanz verleiht. Das beginnt mit Insider-Zitaten, etwa den köstlichen (auch visuellen) Parallelen der Kinder-Charaktere mit Hauptfiguren der alten Universal-Horrorfilme und endet bei dramaturgischen Wagnissen: So driftet die klassische „Frankenstein“-Geschichte plötzlich Richtung „Frankensteins Monster jagen Godzillas Sohn“
(fd 17 419). „Frankenweenie“ wird nicht verwässert, sondern durch mehr Tiefe, mehr Struktur und mehr Sinn erweitert. So avanciert das amüsant-gruselige „Gott-Spiel“ von 1984 zu einem Abenteuer, das gegen Vorverurteilungen aller Art mobil macht und vor den Wagnissen des Unbeherrschbaren warnt. Welch ein Glück, das Burton sein Jugendwerk so kongenial reanimiert hat!