Alles wird gut (2011)

Dokumentarfilm | Deutschland 2011 | 96 (24 B./sec.)/93 (25 B./sec.) Minuten

Regie: Niko von Glasow

Dokumentation über die Genese eines Theaterstücks, bei dem behinderte und nicht behinderte Darsteller zusammenarbeiten. Darin geht es um eine Casting-Show, bei der eine Gruppe behinderter Bewerber auf ihre Chance auf den großen Auftritt wartet. Feinfühlig, mal komisch, mal aufwühlend, lässt der Film den Zuschauer an der Entwicklung, Vorführung und Wirkung des Theaterprojekts teilhaben und reflektiert auf mehreren Ebenen den Umgang mit körperlichen und mentalen Einschränkungen, die Behinderte wie "Normalos" in einer nach Perfektion strebenden (Medien-)Gesellschaft betreffen. (Teils O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Palladio Film/WDR/BR
Regie
Niko von Glasow
Buch
Niko von Glasow
Kamera
Sebastian Salanta · Markus Henkel · Anna Heinzig · Alexander Gheorghiu
Schnitt
Mechthild Barth · Bernhard Reddig
Länge
96 (24 B.
sec.)
93 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
01.11.2012
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Die Bühne ist pechschwarz. Im einsamen Lichtkegel ihres Mittelpunkts singt eine junge Frau im Rollstuhl schief, aber mutig: „Oh, when the saints go marching in, Lord, how I want to be in that number, when the saints go marching in.“ Dies ist die filmische Exposition, aber auch, wie man später erfährt, das Ende eines Theaterstücks, das Niko von Glasow mit 14 Schauspielern, vier ohne und zehn mit Handicap, im Mai 2011 im Kölner Schauspielhaus präsentierte. Seit 52 Jahren lebt von Glasow selbst mit den Folgen des Contergan-Skandals. Der Regisseur mit den verkürzten Armen, aber dem umso wacheren und einfühlsameren Geist, suchte bereits in „NoBody’s Perfect“ (fd 38 897) nach Mitgeschädigten, die durch Aktaufnahmen zeigten, dass die Beeinträchtigung eines Körpers nicht dessen Schönheit mindert. Vier Jahre nach dem Film rang sich auch der Contergan-Hersteller Grünenthal endlich zu einer Entschuldigung durch und finanzierte zugleich ein Denkmal für die Geschädigten. Das Bedauern wird von den Opfern als unzureichend empfunden; die bronzenen Statuen aus einem sitzenden Mädchen mit fehlenden Gliedmaßen und einem leeren Stuhl neben ihr, eingedenk der verstorbenen Kinder, gilt als umstritten. In seinem Dokumentarfilm über die Genese des Theaterstücks „Alles wird gut“ führt von Glasow nun vor, dass körperliche Schädigungen nicht unbedingt unglücklicher machen als emotionale oder mentale. Das wird klar, wenn er vor den Theaterproben seine Darsteller interviewt und die Träume und Ängste teils schwerst behinderter Menschen gegen die der „normalen“ Schauspieler schneidet, die sich für Glasows Stück mit behinderten und nicht-behinderten Darstellern beworben hatten. Im Vergleich mit den behinderten Laiendarstellern haben sie Luxusprobleme, die jeder kennt: das Kreisen um sich selbst, paradoxe Wünsche, die mit Ängsten um die Wette streiten, die Furcht, sich nicht gegenüber der Konkurrenz durchsetzen zu können. Das sind die „Behinderungen“, die die Nicht-Behinderten ebenso einschränken, als säßen sie im Rollstuhl oder könnten viele Dinge durch ihre verkürzten Gliedmaßen oder ihre Blindheit nicht erreichen. Daneben sieht man Menschen, die teils schwerst behindert sind und doch mental stabiler wirken als ihre „perfekten“ Kollegen. Vielleicht hat sie die Konfrontation gestärkt, vielleicht entbindet die Behinderung aber auch von den Ängsten einer Wohlstandsgesellschaft, die sich ihre Probleme zwanghaft sucht, wenn sie im Alltag oder am Körper schon nicht zu finden sind. Von Glasow hat sich eines Themas angenommen, das aktuell im Mittelpunkt unserer schönen Fernsehwelt der „Perfektion“ steht: den Casting-Shows. Das Stück selbst erzählt von einer Gruppe behinderter Bewerber, die von einer Casting-Show-Direktion aus versicherungstechnischen Gründen in einem Hinterraum untergebracht werden. Dort warten sie hoffnungsvoll, geraten aneinander, aber auch zueinander, verlieben und emanzipieren sich – bis sie von der Fernsehregie „vergessen“ werden und am Ende der „Behindertste“ von allen wie das Ausstellungsstück einer sich auf die eigene Schulter klopfenden Toleranz dann doch noch auftreten darf. Die Kamera fängt dabei auch die Theatergäste, mit und ohne Behinderung, bei der Aufführung dieser medien- und selbstironischen Inszenierung mit Herz ein: Lachen, Rührung und Begeisterung löste das Stück aus, und das gelingt von Glasow auch mit seinem großartig montierten Film. Es ist ein Lachen nicht über, sondern mit den kleinen Spleens der behinderten Schauspieler. Down-Syndrom, Autismus, Spastiken, Blindheit werden nicht zur Schau gestellt, sondern dienen Regisseur wie auch Darstellern durchaus für einen kleinen Scherz, den sie mit den Zuschauern zu teilen bereit sind. Es entsteht eine Rührung, die nicht aus Mitleid zehrt, sondern daraus, dass hier Menschen eine Chance ergreifen, die sie sonst nicht gereicht bekommen. Niko von Glasow beweist, vielleicht auch dank den Erfahrungen seiner eigenen Behinderung, dabei das seltene Talent, Szenen, die amüsieren oder aufwühlen, nie aus dem Ruder laufen zu lassen. Fragen um Selbstbewusstsein und Selbstdefinition, Probleme mit zwischenmenschlichen Beziehungen und vor allem die Anerkennung der eigenen Leistung treiben alle um, das macht das Casting dieses Casting-Stücks klar, in dem von Glasow seine Darsteller gleich mal gegen den Strich ihrer Ängste besetzte. Das sorgte während der Produktion für Konflikte, wobei die Linie zwischen Spiel und Realität oft verwischte und zu Zusammenbrüchen führte, an deren Ende aber jeder Einzelne gestärkt aus dem Projekt herauszugehen scheint. Von Glasow zeichnet feinfühlig und humorvoll die inneren Umwälzungen nach, die innerhalb perfekter oder nicht ganz perfekter Körper stattfinden. Das macht den Film zu einem spannenden Puzzle-Teil in unserem Bild von Perfektion und von denen, die dieser vermeintlich nicht entsprechen.
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