Der Contergan-geschädigte Filmemacher Niko von Glasow sucht elf weitere Opfer des Medikaments auf und lädt sie ein, nackt für einen Jahreskalender zu posieren. Aus dieser Ausgangsidee heraus stellt der mutige, vielschichtige Dokumentarfilm höchst unterschiedliche Persönlichkeiten vor, die einmal nicht wegen ihrer Behinderung angestarrt werden, sondern mit Lust den eigenen Körper inszenieren wollen. Er beschreibt das Kalenderprojekt in den Phasen seiner Entstehung und gibt den Protagonisten Gelegenheit, sich über ihr Leben zu äußern. Dabei formuliert er manche unangenehme Wahrheit und nachdenkliche Einsicht, überzeugt vor allem aber durch Witz und Energie. (Kinotipp der katholischen Filmkritik; teils O.m.d.U)
- Sehenswert ab 14.
NoBody's Perfect
Dokumentarfilm | Deutschland 2008 | 87 Minuten
Regie: Niko von Glasow
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2008
- Produktionsfirma
- Palladio Film/WDR
- Regie
- Niko von Glasow
- Buch
- Andrew Emerson · Kiki von Glasow · Niko von Glasow
- Kamera
- Ania Dabrowska · Andreas Köhler
- Schnitt
- Mechthild Barth · Mathias Dombrink
- Länge
- 87 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
Bäuerinnen tun es, Sportlerinnen und Feuerwehrleute auch. Warum, so dachte sich der körperbehinderte Filmemacher Niko von Glasow, sollten nicht auch zwölf erwachsen gewordene „Contergankinder“ für einen Pin-Up-Kalender posieren? Die Blicke der anderen einmal nicht aushalten oder parieren, sondern die Lust an der Inszenierung des eigenen Körpers in der Öffentlichkeit genießen? „Als Behinderter wirst Du ja immer angestarrt. Ich gehe jetzt in die Offensive, ich mache Bilder von vorn und sage: Hier! Guckt! Guckt mich an!“, heißt es einmal in „NoBody’s Perfect“. Das sagt sich allerdings leichter, als es in die Wirklichkeit überführt wird. Denn, so bezeichnet es der zwölfjähriger Sohn des Regisseurs zu Beginn des Films ganz intuitiv, es geht ja darum, sich zu „offenbaren“.
Von Glasow hat sich auf die Suche nach elf Mitstreitern und -streiterinnen gemacht. Von dieser Suche, von vorbereitenden Gesprächen, Lebensgeschichten, Reflexionen, bis zu den Aktaufnahmen selbst handelt „NoBody’s Perfect“. Der Filmemacher ist Mitwirkender und Moderator, agiert schwungvoll und ohne Rücksicht auf „political correctness“. In den 87 Filmminuten lernt man zwölf höchst unterschiedliche, streitbare, humorvolle, nachdenkliche, starke, engagierte, eigenständige und eigensinnige Persönlichkeiten kennen. Etwa den eloquenten britischen Schauspieler Mat, der seine hellsichtigen Positionen luzide und sarkastisch vorträgt; oder den stillen Gärtner Theo, die erfolgreiche Dressurreiterin Bianca, die kiebige Doris, den Contergan-Aktivisten Andreas, die kämpferische Kim oder den Astrophysiker Stefan, der offenbar mit sich im Reinen ist. Dem Film gelingen starke Szenen, wenn die Menschen mit Behinderung untereinander über ihre Gefühle, Verletzungen, Vorstellungen und Perspektiven sprechen. Biografische Anamnese, Familiengeschichten. Welche Gefühle hegt man gegenüber der Mutter, den Eltern, die seinerzeit das Schlafmittel Contergan konsumiert haben? Kam der Gedanke an Selbstmord auf? Wie begegnet man den verschämt-schamlosen Blicken der Öffentlichkeit? Wie steht es mit der Sexualität, mit der eigenen Familie? Dabei darf gerne auch einmal vor der Kamera herumgealbert werden. Von Glasow inszeniert seine Protagonisten betont als Helden, die sich auf unterschiedliche Weise in einer feindseligen Welt behaupten.
„NoBody’s Perfect“ ist ein in jeder Hinsicht reicher Film, der sich auch vor unangenehmen Wahrheiten und Einsichten nicht drückt. Die Contergan-Opfer sind mittlerweile Ende 40 und müssen sich mit den Fragen des Alterns und der Altersversorgung herumschlagen. Am Ende werden dann die Kalender-Pin-ups auf der Kölner Domplatte ausgestellt, und man kann an den unterschiedlichen Reaktionen von Ablehnung bis Begeisterung noch einmal sehen, wie wichtig dieses Projekt nicht nur für die unmittelbar Beteiligten ist. Nur allzu gern hätte Niko von Glasow Vertreter der für Contergan verantwortlichen Firma Grünenthal an diesem Projekt teilhaben lassen, schließlich ist diese Firma irgendwie auch „Contergan-geschädigt“, wie von Glasow verschmitzt anmerkt und für einige erstaunliche und entlarvende Szenen den Michael Moore gibt. Doch die Firmenleitung scheut Popularität wie Verantwortung und bietet stattdessen nach der spektakulären Ausstrahlung von Adolf Winkelmanns Fernsehspiel eine Summe, die jedem Contergan-Geschädigten täglich immerhin lebenslänglich einen Betrag von 1,50 Euro beschert. „Davon kann ich mir dann ein Eis kaufen“, merkt der Filmemacher im Presseheft an. Diese Anmerkung passt zum Tonfall des Films, der viele dissonante Zwischentöne zu einer kräftigen und lebenbejahenden Melodie verbindet. Wie sagt Pat einmal so treffend, als es darum geht, den Erlös des Kalenders für einen guten Zweck zu spenden? „Warum muss so was immer gleich zu einer Mitgefühlsorgie werden?“ Pat weiß, wo das Geld am meisten Sinn macht: nämlich in seiner eigenen Geldbörse.
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