Im Sommer 1992 wurden an der deutsch-polnischen Grenze zwei rumänische Staatsbürger erschossen. Die Täter hatten sie angeblich mit Wildschweinen verwechselt. Zwei Jahrzehnte später rollt der Dokumentarfilm mit hoher investigativer Energie den juristisch abgeschlossenen Fall wieder auf und unterzieht ihn einer filmischen Revision. In geduldigen Zeugenaussagen und Interviews entschlüsselt sich die menschlich-familiäre Tragödie als extrem vielschichtiges Konglomerat, zu dem auch Fremdenfeindlichkeit, Ausländerhass und westliche Arroganz erheblich beigetragen haben. Der hoch reflektierte Umgang mit Bildern, Tönen und Zeugnissen sensibilisiert für eine strukturelle Lesart historisch-politisch-gesellschaftlicher Fakten, vermittelt durch seine beklemmende Dichte aber auch Anteilnahme und Mitgefühl. (Kinotipp der katholischen Filmkritik)
- Sehenswert ab 16.
Revision
Dokumentarfilm | Deutschland 2012 | 110 (24 B./sec.) Minuten
Regie: Philip Scheffner
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2012
- Produktionsfirma
- pong/Blinker Filmprod./Wolklighs Media/ZDF-ARTE
- Regie
- Philip Scheffner
- Buch
- Merle Kröger · Philip Scheffner
- Kamera
- Bernd Meiners
- Schnitt
- Philip Scheffner
- Länge
- 110
(24 B.
sec.) Minuten - Kinostart
- 13.09.2012
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Der Titel klingt nach (Gerichts-)Verfahren, Akten, Juristendeutsch, nach viel Staub und trockener Materie. Die Dokumentarfilme von Philip Scheffner sind jedoch das pure Gegenteil, auch wenn man sein Schaffen generell unter dem Rubrum „Revisionen“ fassen könnte. In seinen sinnlich-lakonischen Filmen unterzieht Scheffner seine Gegenstände einer eigenwillig-insistierenden, beständig neu ansetzenden, zugleich akkuraten narrativen Betrachtung, in der übersehene, verdrängte oder bewusst ignorierte Bedeutungen aufgedeckt werden. Etwa die Umstände, die im Sommer 1992 zum Tod zweier Männer an der deutsch-polnischen Grenze führten: In den frühen Morgenstunden des 29. Juni 1992 wurden die rumänischen Staatsbürger Grigore Velcu und Eudache Calderar auf einem Getreidefeld nahe der Ortschaft Nadrensee von zwei Jägern erschossen, die sie angeblich mit Wildschweinen verwechselten. Vier Jahre nach dem Zwischenfall kam es zu einem Prozess wegen fahrlässiger Tötung, der drei weitere Jahre später mit einem Freispruch der Angeklagten endete. Die Öffentlichkeit nahm von den Vorgängen kaum Notiz; lediglich ein Beitrag im Fernsehmagazin „Kennzeichen D“ fragte an, was wohl geschehen wäre, wenn nicht zwei Deutsche zwei Roma, sondern zwei Roma zwei Deutsche erschossen hätten.
Zum Zeitpunkt von Scheffners Recherche im Herbst 2011 liegt das Geschehen bereits fast zwei Jahrzehnte zurück; am Tatort breiten sich riesige Maisfelder aus, dicht bestückt mit Windmühlen, deren Rotoren rhythmisch-flüchtige Schatten werfen. Eine Ortsbegehung mit den Arbeitern, die Velcu und Calderar damals fanden, fördert Widersprüchliches zu Tage; insbesondere der Umstand, dass der Tatort noch vor dem Eintreffen der Polizei in Brand gesteckt wurde, findet keine Erklärung. Obwohl Scheffner aus dem Off in Gestalt eines essayistischen Kommentators dem Film eine stringente Gestalt gibt, zählen offene Enden zu den charakteristischen Stilmitteln. Im weiteren Verlauf greift der Film diese losen Fäden immer wieder auf, stellt Bezüge und Kontexte her, verknüpft das eine mit dem anderen, ohne kurzschlüssige Knoten zu zurren, sondern vielmehr im Bemühen, die Einzelheiten in größere Zusammenhänge einzubetten. Der Tod der beiden Männer, so zeichnet es sich Wendung um Wendung immer deutlicher ab, kann nicht ohne den Hintergrund der pogromartigen Hetze gegen Ausländer verstanden werden, die (nicht nur) im Osten Deutschlands in den 1990er-Jahren mörderische Dimensionen annahm; er hat auch mit den Abschottungstendenzen Europas zu tun, mit tiefverwurzelten Vorbehalten gegen Sinti und Roma und blinden Flecken der Strafverfolgungsbehörden.
Mit hohem investigativem Ethos holte der Film nach, was die deutsche Justiz nicht zu leisten gewillt war. Etwa eine Ortsbegehung oder die Klärung der Frage, welche Lichtverhältnisse am Unglücktag herrschten und was die Jäger durch ihre Fernrohre vermutlich erkennen konnten. Scheffner macht auch die Angehörigen der Toten in Rumänien ausfindig, die von den deutschen Behörden nie informiert wurden und deshalb weder etwas über die Ermittlungen noch über das Gerichtsverfahren wussten. Die filmische Gestalt dieser Kontaktaufnahme irritiert zunächst: Man sieht die Frauen und Kinder von Velcu und Calderar, wie sie ihren aus dem Off ertönenden Aussagen zuhören, wobei sie diese gelegentlich kommentieren oder bestätigen. Das sind intensive, auf Dauer aber auch anstrengende Momente, weil sie den dialogischen Moment in ein objektiviertes Jenseits transferieren, das den Informationsgehalt vor die Unmittelbarkeit stellt. In gewisser Weise verwandelt sich der Film darüber in einen imaginären Gerichtssaal, vor dem das Schicksal und der Tod der beiden Männer neu verhandelt wird, diesmal unter anderen, gerechteren Vorzeichnen.
Das Verfahren, den Bildraum durch die Audition zu öffnen, dient aber nicht nur einer „alternativen Gerichtsbarkeit“, sondern resultiert im Kern aus Scheffners filmästhetischer Grundoption, auch im Feld des Dokumentarischen dezidiert von „Geschichten“ zu sprechen und deren narrative Strukturen bewusst auszustellen. Immer wieder fragt er aus dem Off nach dem Beginn „dieser Geschichte“ oder lässt seine Gesprächspartner ihre Ausführung mit der wiederkehrenden Sentenz eröffnen: „Mein Film über Girgore Velcu und Eudache Calderar würde mit ... beginnen.“ „Revison“ ventiliert damit nicht nur eine beträchtliche Anzahl von Eröffnungssequenzen (unter denen Scheffners tatsächlicher Einstieg mit dem Maisfeld durch seine signifikante Mehrfachkodierung herausragt), sondern macht in den unterschiedlichen Perspektiven und Färbungen nachdrücklich deutlich, dass nicht nur die filmische Erinnerung, sondern im Grunde auch jede wahrgenommene Wirklichkeit aus einem filigranen Geflecht unzähliger Einzelstränge besteht. Die Rekonstruktion der tragischen Ereignisse in Nadrensee revidiert damit nicht nur das Unrecht, das den beiden Männern, ihren Familien und Angehörigen widerfahren ist, sondern sensibilisiert über die politisch-gesellschaftlichen Umstände hinaus auch für eine geduldigere, engagiertere und offenere „Lektüre“ der Welt.
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