Immer wieder sieht man in diesem Kammerspiel Schweigende. Menschen, die eine Auszeit nehmen von dem Geplapper der anderen Familienmitglieder, die jeden Konflikt aus Mangel an existenziellen Widerständen vermeiden. Angereist zu einem jener seltenen Stelldicheins irgendwo im grünen Reihenhausgürtel eines rheinländischen Vororts, schalten sie sofort den energiesparenden Schongang ein. Drei Generationen spielen sich eine gutbürgerliche Sonntagsidylle mit Kaffee, Kuchen und angestrengt guter Laune vor. Natürlich ist nichts, wie es scheint. Der von Lars Eidinger gespielte Sohn schlurft als Berliner Kreativer durch sein langsames Leben, mit obligatorischem Nachwuchs und gescheiterter Ehe. Sein Bruder, ein weiteres Exemplar jener neuen, von Soziologen mit Staunen erforschten Spezies des unentschiedenen männlichen Thirtysomething, hat die Abnabelung erst gar nicht in Angriff genommen. Er wohnt im Haus nebenan und führt eine Fernbeziehung. Seine verwaiste Zahnarztpraxis müsste er eigentlich für insolvent erklären, wenn da nicht die Scham vor den Eltern wäre. Die haben sich längst auseinandergelebt, halten die arrivierte Fassade aber aufrecht, die Mutter dank Antidepressiva, der Vater, ein Jahrzehnte nach Frankfurt pendelnder Verleger, durch ein Doppelleben, das seinen Reiz aus Ausflügen mit dem Segelboot und einer langjährigen Geliebten bezieht. Gerade hat er seine erfolgreiche Firma verkauft und setzt selbstverliebt zur dritten Jugend als Sachbuchautor an. Pech für die mit Geldzuwendungen auf Distanz gehaltenen Söhne, die mit jeder phlegmatischen Geste vergeblich um Halt, Schutz und Orientierung betteln. Trost bei der Mutter zu suchen, ist tabu. Die hat schließlich genug mit ihren eigenen Hausfrauendämonen zu kämpfen.
Das kollektive Lügenkonstrukt könnte noch einige Zeit den ausbleibenden Wutgewittern standhalten, hätte Gitte – die Mutter, doch die Wörter Mama und Papa haben die liberalen 68er-Eltern erfolgreich aus dem Wortschatz getilgt – nicht seit zwei Monaten ihre Medikamente abgesetzt. Akupunktur soll es jetzt richten. Corinna Harfouch verleiht dieser Entscheidung mit ihrem nuancierten Spiel eine dramaturgisch erlösende Vehemenz, die allerdings seitens der Familie auf pure Fassungslosigkeit trifft. Freude sieht anders aus. Der machtbewusste Vater ärgert sich darüber, dass er „sein ganzes Leben in diese Ehe investiert“ hat und sorgt sich um seine Reisepläne, die er mit einer zu Hause seelisch abdriftenden Frau nicht mehr gelassen absolvieren kann. Den sensiblen Söhnen ist die Last einer urplötzlich als Subjekt auftrumpfenden Mutter schlicht „zu viel“. Ihr Misstrauen ist berechtigt; diesmal steckt sie ihre Wünsche nicht zurück, um ihren Nächsten den Rücken frei zu halten. Stattdessen steigt Gitte aus ihrer berechenbaren Rolle aus und verschwindet im Wald. Die Mittelstandslethargie vermag sie mit diesem hilflosen Widerstandsakt nur für einen kurzen Moment zu stören. Man sucht nach ihr, erst angsterfüllt, dann zunehmend kraftlos. Das nächste Treffen nach einem halben Jahr findet ohne sie statt, als wäre nie etwas vorgefallen. Man ist schließlich tolerant und respektiert ihren Entschluss. Nur das Schweigen schallt jetzt noch bleierner durch das Wohlstandsidyll.
Hans-Christian Schmid fängt den Strukturwandel der bundesrepublikanischen Lebensentwürfe scharfsichtig ein. Schade ist nur, dass der bittere Befund bereits seit über einem Jahrzehnt von der Berliner Schule, allen voran Angela Schanelec, in allen Facetten dysfunktionaler Familienkonstellationen durchgespielt worden ist. Nicht zu vergessen das Regie-Drehbuch-Gespann Stefan Krohmer und Daniel Nocke, das sich mit seinen gesellschaftlichen Bestandsaufnahmen, von „Familienkreise“ über „Sommer ’04“
(fd 37 835) bis zu „Mitte 30“, ebenso lang an einem schmerzhaft klugen Panorama seiner Generation abarbeitet. Wenn auch das Erlebnis neuer Einsichten fehlt, gehört „Was bleibt“ mit den intimen Beobachtungen einer rein psychischen, nie sozialen Notsituation dennoch zum schnörkellos Eindringlichsten, das gegenwärtig an Zeitdiagnose im deutschen Kino zu finden ist. Ein leises Gruppenbild mit implodierender Kettenreaktion, die das Unglück der Figuren trotz flacher Bilder ganz nah heranrücken lässt.