Carte Blanche

Dokumentarfilm | Schweiz/Deutschland 2011 | 91 Minuten

Regie: Heidi Specogna

Dokumentarfilm über die Versuche des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, einen Prozess gegen den kongolesischen Politiker Jean-Pierre Bemba wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu eröffnen. Im Mittelpunkt der klug strukturierten Recherche stehen mehrere Mitarbeiter des Gerichts, die in der Zentralafrikanischen Republik Spuren der systematischen Vergewaltigungen durch Bembas Truppen im Oktober 2002 sichern sollen. Ein vielschichtiger, spannend erzählter und dokumentarisch reflektierter Film, der deutlich macht, warum der Einsatz für Gerechtigkeit ein unmittelbar einleuchtendes Gebot der Mitmenschlichkeit ist. (Teils O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
CARTE BLANCHE
Produktionsland
Schweiz/Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
PS Film/Specogna Filmprod.
Regie
Heidi Specogna
Buch
Heidi Specogna
Kamera
Johann Feindt · Thomas Keller
Schnitt
Anne Fabini
Länge
91 Minuten
Kinostart
10.05.2012
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag ist ein kühner Versuch, dem Völkerstrafrecht weltweit Geltung zu verschaffen. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sollen hier geahndet, die Verantwortlichen für Völkermord und Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Der Volksmund nennt den futuristische Gebäudekomplex denn auch „De Arc“. Luis Moreno-Ocampo, der Chefankläger in Den Haag, ist sogar überzeugt, dass mit der 1998 gegründeten Institution der entscheidende Baustein für die Durchsetzung des Rechtsgedankens geschaffen wurde: „Wir können Menschen nicht besser oder schlechter machen; gerade deshalb brauchen wir eine institutionelle Garantie dafür, dass man für seine Taten zur Verantwortung gezogen wird – und zwar weltweit“. Wie das in Den Haag konkret geschieht, zeichnet Heidi Specogna in ihrem außergewöhnlichen Dokumentarfilm „Carte Blanche“ an dem Verfahren gegen den kongolesischen Politiker Jean-Pierre Bemba nach. Ihm werden Gräueltaten seiner Soldaten angelastet, die 2002/2003 in der benachbarten Zentralafrikanischen Republik deren Machthaber Patassé gegen die Aufständischen unter François Bozize unterstützten. Am 25. Oktober 2002 überquerten 1500 schwerbewaffnete Männer von Bembas kongolesischer Befreiungsarmee MLC den Fluss Oubangui und drangen plündernd, mordend und vergewaltigend Richtung Norden auf die zentralafrikanische Hauptstadt Bangui vor. Die schockierenden Berichte von Amnesty und anderen NGOs über gezielte Massenvergewaltigungen vor allem in den ersten Tagen der Invasion legen nahe, dass hier sexuelle Gewalt sehr gezielt und systematisch eingesetzt wurde, um die Bevölkerung zu demoralisieren und in Panik zu versetzen. Vor dem Internationalen Strafgerichtshof genügen allerdings keine Berichte aus zweiter Hand; in Den Haag müssen vielmehr Zeugen persönlich aussagen, was sie erlebt und gesehen haben. Deshalb wurden nach der formellen Eröffnung eines Verfahrens gegen Bemba im Jahr 2007 juristische Teams in das Land geschickt, die gerichtsrelevantes Beweismaterial erschließen und sichern sollten. Heidi Specogna war bei mehreren dieser Reisen mit dabei und dokumentierte die mühsame Kleinarbeit, mit der die verbrecherischen Spuren rekonstruiert werden; sie porträtiert darüber hinaus aber auch die Menschen, die sich dieser Aufgabe verschrieben haben. Etwa Gloria Atiba Davis, eine Juristin aus Sierra Leone, die mit viel Emphatie, aber auch großer Klarheit die Gespräche mit den traumatisierten Opfern führt. Oder den Rechtsmediziner Eric Baccard, der besonnen und umsichtig in der roten Erde nach den Überresten der Toten gräbt und die letzten Botschaften der Toten identifiziert, die ihre Mörder überführen können. Der Blick auf die Rechercheure mag zunächst überraschen, ist erzählerisch aber clever gewählt: Die Juristen erläutern nicht nur ihr Tun und das des Strafgerichtshofs, sondern geben überdies der Rezeption eine zugängliche Form, indem die brutalen Verbrechen in einer menschlichen Interaktion zur Sprache kommen. Aus anonymen Schicksalen abstrakter „Nachrichten“ wird so – auch wenn die Gespräche wegen des schwebenden Verfahrens filmtechnisch zumeist verfremdet sind – das Erleben und Erleiden eines konkreten Gegenübers, dessen emotionaler Nachklang bei den Protokollanten überdies den Anspruch der Universalität unterstreicht. Ein Gerichtsfotograf bekennt, dass die ständige Konfrontation mit den Folgen der Gewalt bei ihm dazu geführt habe, sich weniger um die Zukunft zu sorgen. In der Konsequenz führt diese Art filmischer Argumentation dazu, dass die Forderung einer Den Haager Anklägerin, der Gerichtshof müsse für „Zeuge 23“ eintreten, einen Hausmeister aus Bangui, dessen viehische Misshandlungen soeben vorgetragen wurden, kein idealistisches Postulat, sondern ein unmittelbar einleuchtendes Gebot der Mitmenschlichkeit ist. „Carte Blanche“ ist ein klug reflektierter, extrem vielschichtiger und dabei zugleich fast sensualistischer Film, der dramaturgisch zwar nicht mit einem Spielfilm wie Hans Christian Schmids „Sturm“ (fd 34 358) konkurrieren kann, aber durchaus über ein beträchtliches Spannungspotenzial verfügt. Denn die Struktur des Films folgt dem sogenannten Vorverfahren, bei dem die Beweislage gegen Bemba auf ihre Stichhaltigkeit geprüft und über die Zulassung eines ordentlichen Gerichtsverfahrens entschieden wird. Dass nach drei langwierigen, filmisch trotz der erdrückenden Umstände recht kurzweiligen Jahren am Ende des Films eine endgültige Entscheidung, ob der Prozess gegen Bemba eröffnet wird, aufgeschoben wird, ist für den Film ein Glücksfall. Denn darüber kommt noch einmal nachdrücklich die Perspektive der Zeugen in den Blick, deren Bereitschaft, nach Den Haag zu kommen und dort zu erzählen, wie oft sie und ihre Angehörigen vergewaltigt wurden, auf eine extreme Probe gestellt wird. Das zeigt: Zum Glauben an die Gerechtigkeit gehört Courage!
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