Es mutet fast wie ein kleines Wunder an, inmitten der von futuristischer Technik und enthumanisierter Action beherrschten Franchise-Filme aus den Major Studios einen Film zu finden, der die uralte Geschichte vom Kampf des Menschen gegen die Natur so spartanisch auf einige wesentliche Bestandteile reduziert, als seien Jack London und die Filme von Anthony Mann wieder auferstanden. Joe Carnahan, der bisher nichts als zynische Genre-Unterhaltung hervorgebracht hat („Smokin’ Aces“, fd 38 064, „Das A-Team“, fd 40 001), erweist sich bei „The Grey“ plötzlich als ein Regisseur mit Sinn für die elementaren Attribute einer fesselnden Abenteuergeschichte. Während Carnahans frühere Filme mit betäubender Selbstzweckhaftigkeit aufwarteten, richtet er diesmal den Blick nach innen; er entdeckt die Menschen hinter dem gewalttätigen Geschehen, lässt sogar Nachdenklichkeit und Poesie aufkommen – und das alles in einer Story, die so rau und unbarmherzig ist wie die Wildnis, in der sie spielt. Dabei hilft ihm die Wahl des Hauptdarstellers immens. Liam Neeson schien Oskar Schindler und Alfred Kinsey lange hinter sich gelassen zu haben, um sich in Filmen wie „96 Hours“
(fd 39 137) und „Unknown Identity“
(fd 40 330) seinem Alter zum Trotz als Thriller-Held zu etablieren. Nun bringt er eine Figur auf die Leinwand, deren harsche Entschlossenheit nur in scheinbarem Gegensatz zu einer tiefen inneren Verletzlichkeit steht – eine der besten Leistungen seiner langen Karriere.
Liam Neeson spielt Ottway, einen baumstarken Mann, den der Tod seiner Frau aus der Bahn geworfen hat und der mit sich und seinem Leben nichts anderes mehr anzufangen weiß, als sich von einer Ölgesellschaft im hohen Norden Alaskas als Scharfschütze anheuern zu lassen; ein Job, den man auch als Selbstmord mit anderen Mitteln ansehen könnte. Seine Aufgabe ist es, Wölfe und andere Unbill von den undisziplinierten Abenteurern fern zu halten, die in den arktischen Ölfeldern arbeiten. Doch noch bevor er mit der Gruppe am Ziel angekommen ist, stürzt ihr Transportflugzeug in einem Schneesturm über unbewohnter, von jeder Zivilisation weit entfernter Gegend ab. Bald schon entdecken die Überlebenden, dass der Crash nicht das Schlimmste war. Auf sich selbst und wenige gerettete Hilfsmittel angewiesen, sehen sie sich einer bedrohlichen Meute großer Wölfe ausgeliefert, die ihr Territorium gegen die Eindringlinge verteidigen. Jeder der Männer schleppt sein eigenes seelisches Gepäck mit sich herum, das sich auch hinter all ihrem Kraftgehabe nicht verbergen lässt. Ottway, der Einzige, der eigentlich gar nicht mehr leben will, wird zu ihrem Anführer.
Das ist eine Abenteuerkonstellation von traditionellem Zuschnitt. Doch schon in den ersten Szenen setzt Carnahan unübersehbare Zeichen, dass es ihm um mehr als dem Gros einschlägiger Filme geht. „The Grey“ ist eine Geschichte über Verlust und Trauer. Wichtigere Themen als die Blizzards und die lauernden Wölfe schleichen sich unnegierbar ein. Moderne Actionfilme haben den Tod zur Begleiterscheinung degradiert. Indem sie ihn verhundertfachen, nehmen sie ihm die Würde und die Signifikanz. Hier steht gleich am Anfang eine lange, mit großem Ernst beschriebene Sterbeszene, die im Umfeld der scheinbar ganz auf die üblichen Effekte programmierten Abenteuer-Story in ihrer Einfühlsamkeit als Irritation auffällt. Solche tiefer lotenden Irritationen setzen sich durch den ganzen Film fort, um in eine unüberhörbare metaphysische Fragestellung zu münden.
Joe Carnahan gibt der Genre-Spannung, was das Publikum von ihm erwartet. Doch auch das tut er mit bemerkenswert effektiven altmodischen Mitteln: 40 Tage Dreharbeiten in der Eiseskälte von British Columbia, ohne Computereffekte, in richtigem Sturm und Schnee. Aber ihm gelingt gleichzeitig etwas heute ebenso Unkonventionelles, indem er die philosophischen Konsequenzen unserer unkalkulierbaren Sterblichkeit mehr und mehr in den Mittelpunkt rückt. Kenner der Filmgeschichte mögen sich gelegentlich an eine andere Gruppe harter Männer erinnert fühlen, die bei der Erledigung einer gefährlichen Mission dazu gedrängt werden, angesichts des Todes nach dem Sinn ihrer Existenz zu fragen: an Clouzots „Lohn der Angst“ (fd 2609). Doch wer hätte erwartet, Liam Neeson zwischen „Das A-Team“ und seinem nächsten kraftstrotzenden Film „Zorn der Titanen“ noch einmal als Botschafter der menschlichen Angst anzutreffen?