- | Polen/Deutschland/Kanada 2011 | 144 Minuten

Regie: Agnieszka Holland

Die authentische Geschichte einer Gruppe polnischer Juden, die 1943 auf der Flucht aus dem Ghetto in den Kanälen der Stadt Lvov überlebte. Im Zentrum steht ein nicht-jüdischer Kanalarbeiter, der wesentlich dazu beiträgt, dass die Verfolgten überleben. Agnieszka Holland inszeniert den gnadenlosen Taumel im Untergrund als bedrückendes Albtraumspiel, führt mit naturalistischen Intermezzi aber auch in kolportagehafte Gefilde. Insgesamt wirkt ihr Film eher wie eine emotionale Achterbahnfahrt denn eine intellektuelle Durchdringung der polnischen Historie. Immer dann, wenn er seine albtraumartige Ebene hinter sich lässt, wird er zur schwachen Kopie einer unfassbaren Wirklichkeit. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
W CIEMNOSCI
Produktionsland
Polen/Deutschland/Kanada
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Schmidtz Katze Filmkollektiv/The Film Works/Studio Filmowe Zebra/Studio Babelsberg
Regie
Agnieszka Holland
Buch
David F. Shamoon
Kamera
Jolanta Dylewska
Musik
Antoni Komasa-Lazarkiewicz
Schnitt
Michal Czarnecki
Darsteller
Robert Wieckiewicz (Leopold Socha) · Benno Fürmann (Mundek Margulies) · Agnieszka Grochowska (Klara Keller) · Maria Schrader (Paulina Chiger) · Herbert Knaup (Ignacy Chiger)
Länge
144 Minuten
Kinostart
09.02.2012
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Ein Film, sagte Jean-Pierre Melville einmal, sei „in erster Linie ein Traum, und es ist absurd, das Leben zu kopieren, indem man versucht, es genau wieder zu erschaffen. Ich bewege mich vom Realismus zur Fantasie“. Dies beschreibt auch Agnieszka Hollands neuen Film, jedenfalls in seinen besten Momenten. Die Flucht polnischer Juden vor den deutschen Häschern aus dem Ghetto in die Kanalisation von Lvov ist ein auf Realitäten gegründetes und doch auch fantastisches Albtraum-Spiel. Gnadenloser Taumel im Dunkel des Untergrunds. Gesichter und Körper sind nur zu erahnen, Schreie und Flüstern die letzten vernehmbaren Zeichen der vom Tod Gezeichneten. Die Kamera bewegt sich zwischen Hektik und Lethargie; aus den Augen, die durch eine ausgeklügelte Lichtsetzung aus der Finsternis herausgehoben werden, sprechen Verzweiflung und Angst. Agnieszka Holland überhöht das Geschehen aus den Jahren 1943/44, 14 Monate in den stinkenden Katakomben, bisweilen zur Legende. Sogar ein Kind wird geboren, in Schmutz und Nässe, doch keine Hirten, keine Könige aus dem Morgenland erscheinen dem in Tücher gehüllten Ankömmling. Seine Mutter wird es töten, weil jedes laute Weinen Gefahr bedeutet. Das Versteck befindet sich direkt unterhalb einer Kirche; von dort dringen die Gesänge und Gebete der nicht Wissenden, nicht wissen Wollenden in die Tiefe. „In Darkness“ geht das Wagnis ein, den Zuschauer über zwei Stunden lang ins Herz der Finsternis mitzunehmen und dort, im erbärmlichsten Elend, zugleich Kerzen der Hoffnung zu entzünden. Hoffnung durch eine neue, stets gefährdete, aber umso heftiger aufkeimende Liebe zwischen Muntek und Klara. Hoffnung durch Humanität: Der reiche Mann, jetzt im Dreck mit allen anderen, opfert Geld und Schmuck zur Rettung der kleinen Gemeinschaft. Immer mehr wächst ein Gefühl gegenseitiger Fürsorge. Nur gemeinsam ist, vielleicht, eine Rettung möglich. Ins Zentrum rückt Agnieszka Holland aber eine nicht-jüdische Figur, einen Dieb und Gelegenheitsgauner, der zunächst nach dem Hab und Gut der Verlorenen giert, dann aber doch seine Güte entdeckt. Als Kanalarbeiter rettet er sie vor Hunger, Wassereinbruch und Nazi-Häschern, schrammt selbst nur knapp am Tode vorbei: kein hehrer Antifaschist, sondern ein innerlich Zerrissener, der zunehmend vom Mut der Verzweiflung getrieben wird. Robert Wieckiewicz, einer der derzeitigen Publikumslieblinge des polnischen Kinos, spielt diesen wieselflinken Tunichtgut, der über alle seine Schatten springt: eine bleibende Rolle. Mit dem Motiv des Kanals, dem Überlebenswillen und verborgenen Widerstand unter dem Pflaster der Stadt kehrt Agnieszka Holland zu einem klassischen Sujet des polnischen Kinos zurück: Ihr Lehrmeister Andrzej Wajda hatte dem Kanal und seinen „Bewohnern“ schon in den 1950er-Jahren ein filmisches Denkmal gesetzt („Der Kanal“, fd 7172). Anders als Wajda und erst recht sein Altersgenosse, der grandiose, fast vergessene Andrzej Munk, befragt sie die polnische Geschichte freilich weniger intellektuell; sie sucht weniger nach politisch-moralischen Widerhaken in den überlieferten Legenden, nimmt den Zuschauer vielmehr vor allem auf eine emotionale Reise mit. Ihr Gefühlskino, das „In Darkness“ ganz bewusst in die Nähe von Spielbergs „Schindlers Liste“ (fd 30 663) rücken soll, hält freilich auch naturalistische Intermezzi parat, die den Film aus der überhöht-fantastischen Suggestion einer vergangenen Epoche wieder in naturalistische Gefilde zurückführen. Die nackten Frauen, die durch den Wald getrieben werden, die mordenden ukrainischen NS-Kollaborateure, die wild um sich schießenden SS-Männer in einem Konzentrationslager wirken wie aus dem Bilderbuch billigen Reenactments. Sobald der Film seine albtraumartige Ebene, den unerhörten Vorgang hinter sich lässt, wird er zur schwachen Kopie einer unfassbaren Wirklichkeit. Also beliebig.
Kommentar verfassen

Kommentieren