Lollipop Monster

Drama | Deutschland 2011 | 93 Minuten

Regie: Ziska Riemann

Zwei Mädchen aus grundverschiedenen Elternhäusern, aber beide auf ihre Weise mit familiärem Ballast beschwert, finden in ihrer Freundschaft Halt. Beeindruckendes Coming-of-Age-Drama, dessen Inszenierung den Stoff zum surreal anmutenden Märchen überhöht und sowohl durch die Ausstattung als auch die Einbeziehung von Animationssequenzen, Musikvideo-Einlagen und Super-8-Passagen die Kraft der jugendlichen Fantasie feiert, die abgründig-gefährliche, aber auch befreiend-utopische Seiten aufweist. Auch die überzeugenden Darstellerinnen tragen zur Wirkung des Films bei. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Network Movie/ZDF
Regie
Ziska Riemann
Buch
Ziska Riemann · Luci van Org
Kamera
Hannes Hubach
Musik
Ingo L. Frenzel · Alexander Hacke
Schnitt
Dirk Grau
Darsteller
Jella Haase (Ari) · Sarah Horvath (Oona) · Nicolette Krebitz (Kristina) · Thomas Wodianka (Lukas) · Sandra Borgmann (Marie)
Länge
93 Minuten
Kinostart
25.08.2011
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Ein Musikvideo im Fernsehen zeigt einen finsteren, blau gefärbten Mann mit Zylinder auf einer Varieté-Bühne. Er singt vom „tiefen Dickicht der Städte“, von gebleckten Zähnen und dunkler Nacht, von Gefühlen, die sich nach Widerhall sehnen. Eine seltsame, boshafte und doppeldeutige Ausstrahlung, die man dämonisch nennen mag, geht von diesem kleinen Video aus. Oona und Ari, die etwa 15-jährigen Mädchen im Zentrum von „Lollipop Monster“, sehen diesen Film, und das verbindet sie, die sich noch nicht kennen, gleich zu Beginn. Auf den ersten Blick. Dabei sind sie denkbar verschieden. Ari lebt im Vorstadthäuschen ihrer Eltern mit wohlgepflegtem Garten in einer kunterbunten, von Eskapismus dominierten Welt, die man als Mischung aus Barbie-Puppenstube und Pippi-Langstrumpf-Anarchismus beschreiben kann. Die überbemutternde Mutter konzentriert sich auf den Bruder, Ari zieht sich zurück und macht, was sie will. Oona dagegen trägt Black-Metal-Outfits und hört gern Dark-Wave-Musik. Schwarz hat sie auch ihr Zimmer gestrichen. Der Vater ist erfolgloser Künstler, man lebt in einem Atelier-Loft in der nicht näher definierten Stadt (gedreht wurde in Köln). Als Oona eines Abends ein Geheimnis der Mutter entdeckt, erzählt sie es sofort dem geliebten Papa: „Mama fickt mit Onkel Lukas im Auto.“ Mit schlimmen Folgen: An einem der nächsten Tage hängt der Vater morgens vor ihrer Schule tot am Baum. Bald darauf begegnen sich Oona und Ari und erkennen sich: Zwei Mädchen voll innerer Verlorenheit, die in ihrer Not nirgendwo Hilfe zu finden scheinen und versuchen, sich selbst zu helfen. Es ist mehr als eine gewöhnliche Pubertätskrise, mit der man es hier zu tun hat. Überhaupt kommt man nicht sehr weit, wenn man versucht, Figuren und Handlung von „Lollipop Monster“ mit Begriffen aus dem Arsenal sozialpädagogischer oder therapeutischer Diskurse zu erfassen. Von Anfang an ist die Story, sind Atmosphären und Ästhetik märchenhaft, und wie in vielen Märchen geht es grausam zu, werden Abgründe aufgerissen, geht es aber auch hinein in die Welt von Traum und Fantasie. Das Production Design versucht daher gar nicht erst, naturalistisch zu sein; wie in einem klassischen Musical ist die Objektwelt auch hier primär ein Ausdruck von Gefühlen und Befindlichkeiten: mal überkandidelt knallbunt, mal rabenschwarz. Zwei-, dreimal haben die Mädchen für Sekunden gelbe Katzenaugen, wie man sie aus Vampir-Filmen kennt. Unterbrochen wird die Handlung durch sinnhafte Musikvideo-Einlagen, Super-8-Passagen und kurze Animationen, die schwarze Raben zeigen, die krächzend aus der Seele über die Leinwand fliegen. Regisseurin Ziska Riemann, die bisher als Comic-Zeichnerin und Autorin Erfolg hatte, bekennt sich in ihrem Regiedebüt offen zur Künstlichkeit der Darstellung. Diese bedeutet für die Zuschauer wie für die beiden Hauptfiguren sowohl Eskapismus als auch die herausfordernde, weltverändernde Kraft der Fantasie. Nur wenn man beides sieht, versteht man, was in den Mädchen vorgeht. Letztendlich fühlen sich beide fehl am Platz und haben sich noch nicht gefunden. Die Suche wird hart: Die Mädchen, besonders Ari, entdecken ihre Sexualität und kämpfen zugleich mit Unsicherheit wie mit Schuldgefühlen – besonders Oona wegen des väterlichen Selbstmords. Alles, auch der Sex, wird hier zu einer Form der Autoaggression. Die Elternhäuser sind chaotisch bis dysfunktional und können nicht helfen. So ist dies am Ende nicht nur ein wilder Film, sondern auch eine große Freundschaftsgeschichte. Sehr weiblich in der Offenheit, in der man miteinander weint und lacht und liebt und Spaß hat, aber es soll ja auch Jungs geben, die sich solche Freundschaften zumindest wünschen. Sarah Horváth und Jella Haase sind hervorragend in den Hauptrollen, deren Auftritte ganz im Zentrum stehen. Auch andere Rollen sind mit Sandra Borgmann und Nicolette Krebitz stark besetzt. Vor allem aber bestechen Riemanns Regie und der Mut, den sie und ihre Co-Autorin Luci van Org (an deren Pop-Songs manche Story-Motive anknüpfen) in der Konsequenz ihrer Story beweisen. Man wünscht dem deutschen Kino mehr solcher Projekte, die, über den Tellerrand der Fernsehästhetik hinaus blickend, Einflüsse anderer Film-Kulturen aufgreifen und überzeugend integrieren. Der Film hat stilistisch viele ferne Vorbilder – Verweise auf „American Beauty“ (fd 34 066) oder David Lynchs postmoderne Surrealismen führen zwar wenig weit, die Erinnerung an den japanischen Animationsfilm, Comics und vor allem Sofia Coppolas Vorstadtalbtraum „The Virgin Suicides“ (fd 34 539) dafür um so mehr. Ebenso sind Einflüsse aus Musikvideos unübersehbar. Rieman erzählt überzeichnet, voll erkennbarer Lust am Skurrilen und Absurden. Vor allem aber erzählt sie souverän. Als Porträt von „Teenage Angst“ und dysfunktionalen Familien, vor allem der Sprachlosigkeit der Mittelklasse, unter der deren Kinder leiden, ist das gelungen und anregend. Die Ehrlichkeit des Films, sein Stilwille und offener Ästhetizismus überzeugen jederzeit. Sie machen die Stärke von „Lollipop Monster“ und zu einem ungewöhnlichen, reizvollen Film.
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