Am Totenbett eines Vaters in der österreichischen Provinz treffen dessen vier erwachsene Kinder zusammen. Während der Tage bis zum Begräbnis drängen Erinnerungen an die unkonventionelle Kindheit in einer Kommune zu Tage, die der Tote in den 1970er-Jahre gründete. Eine in vielen Rückblenden erzählte Familienzusammenführung, die sich fast manisch auf ihre Figuren konzentriert und deren komplexes Beziehungsgeflecht offen legt. Der klug erzählte, herausragend fotografierte Debütfilm arbeitet sich an den verdrängten Defiziten der antibürgerlichen Revolte ab, ohne dabei die Gegenwart der Protagonisten aus dem Blick zu verlieren.
- Sehenswert ab 16.
Die Vaterlosen
Drama | Österreich 2011 | 105 Minuten
Regie: Marie Kreutzer
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Filmdaten
- Originaltitel
- DIE VATERLOSEN
- Produktionsland
- Österreich
- Produktionsjahr
- 2011
- Produktionsfirma
- Novotny & Novotny Filmprod./Witcraft Szenario OG
- Regie
- Marie Kreutzer
- Buch
- Marie Kreutzer
- Kamera
- Leena Koppe
- Musik
- David Hebenstreit
- Schnitt
- Ulrike Kofler
- Darsteller
- Andreas Kiendl (Vito) · Andrea Wenzl (Kyra) · Emily Cox (Mizzi) · Philipp Hochmair (Niki) · Marion Mitterhammer (Anna)
- Länge
- 105 Minuten
- Kinostart
- 04.08.2011
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Ein Sterbender verabschiedet sich kurz nach Mitternacht von seinem anwesenden Sohn mit Vorwürfen und Beleidigungen, die in ihrer erbarmungslosen Kälte erschauern lassen. Wie in Louis Malles „Komödie im Mai“ (fd 28 193) reisen nach dem Exitus seine drei anderen erwachsenen Kinder samt Lebenspartnern ins ländlich gelegene Haus ihrer Kindheit und rechnen bis zum Begräbnis sowohl mit „dem Hans“ ab, für den sie, wie eine der Töchter bitter kommentiert, „nur die Tapete für seine Selbstverwirklichung waren“, als auch miteinander. Obwohl man sich aus den Augen verloren hat und von der Existenz einer Halbschwester nichts wusste, brechen die alten Wunden und Konflikte auf. Man konkurriert, misstraut einander und teilt aus, macht die anderen für berufliches Scheitern und Identitätsprobleme verantwortlich. Das emotionale Chaos der Gegenwart könnte nicht mehr Zielscheiben finden, die nachfolgende Generation kommt um die Aufarbeitung der utopischen Illusionen ihrer Eltern nicht umhin. An der familiären Entfremdung konnte offenbar auch das Aufwachsen in einer von außen idyllisch wirkenden Kommune nichts ändern. In den 1980er-Jahren war ihr Vater das Indianerschmuck tragende Oberhaupt einer von der linken Alternativkultur beseelten Gemeinschaft, die sich Besitzlosigkeit, freie Liebe und flache Hierarchien verordnete, wozu natürlich an vorderster Front die Abschaffung des klassischen privaten Familienmodells der Zweierbeziehung zählte. Vor allem für Hans war das der ideale Spielplatz für das Ausleben eines mit Begriffen wie „Freiheit“ und „Nonkonformismus“ camouflierten Narzissmus.
Die Bilanz 20 Jahre später fällt ernüchternd aus. Die das Haus immer noch bewohnende Mutter ist vereinsamt und hat sich längst mit dem dörflich-biederen Umfeld arrangiert. Die Gespräche kreisen um Lügen und Geheimnisse. Einer der Söhne erfuhr kurz vor dem Zerfall der Kommune per Bluttest, dass Hans nicht sein Vater ist. Die neu gefundene Halbschwester berichtet davon, dass er die damals Achtjährige seit ihrem Auszug mit der verstoßenen Mutter abgeschrieben und keinerlei Kontakt gepflegt habe. Und das, kurz nachdem seine zweite Tochter geboren wurde und einen folgenreichen Unfall als Säugling erlitt. Offenbar kein Grund für ihren Bruder, den mit den Jahren patriarchal agierenden Häuptling zu verteidigen und das Kollektivleben trotz maroder Bausubstanz und dem Widerstand der experimentiermüden Mutter wieder aufleben lassen zu wollen.
Das erstaunlich reife Spielfilmdebüt der 1977 geborenen Regisseurin und Drehbuchautorin Marie Kreutzer erinnert thematisch an Pia Marais autobiografisch inspirierte Abrechnung mit ihren Hippie-Eltern, „Die Unerzogenen“ (fd 38 510). Ihre eigenen Vorbilder sind die Familienstudien „Der Eissturm“ (fd 32 888) oder „Un conte de Noël“ von Arnaud Desplechin. Kreutzer verhandelt das Scheitern antibürgerlicher Lebensmodelle allerdings zugleich mit nostalgischer Wehmut und jener typisch österreichischen Gnadenlosigkeit, die vor keinem noch so psychologisch nachvollziehbaren Widerspruch der Charaktere zurückschreckt. Was wohl auch damit zu tun hat, dass Österreich mit der Kommune des Wiener Aktionisten Otto Mühl der Schauplatz eines vor allem für den gemeinsam erzogenen Nachwuchs fatal aus dem Ruder gelaufenen Menschenversuchs war. Nach dem ideologischen Kommune-Guru Wilhelm Reich war „die Familie die Brutstätte aller Geisteskrankheiten“, doch erwies sich der Friedrichshof unter Mühl als idealer Hort der Manipulation, wozu Gehirnwäsche, autoritäre Strukturen, Gruppenzwang und auch Kindermissbrauch gehörte. Eine spektakuläre Zuspitzung der Dramaturgie ist indes nicht Kreutzers Anliegen. Krude Gewalt kommt nicht vor, die Übergriffe sind subtilerer Natur. Eifersucht, Missgunst und der Drang zur Macht reichen aus, um den Aufbruch zu neuen Ufern an der menschlichen Natur scheitern zu lassen, nicht ohne eine große Portion befreienden Humor. Ungewohnt auch die fehlende Strenge in der Inszenierung. Szenen vom gemeinsamen Essen auf der Wiese versprühen gar die Leichtigkeit französischer Landfilme. „Die Vaterlosen“ umschifft die Gefahr des Abgleitens in einen Thesenfilm mit einer fast manischen Konzentration auf die Figuren, die alle mit ihrem Blick auf die Geschehnisse gleichberechtigt zu Wort kommen. Das hoch motivierte Ensemble ist stets fiebrig in Bewegung, was auch an den vielen Gruppenszenen liegen mag, in denen die klugen Dialoge um die Wette Funken schlagen und der spannungsgeladenen Ambivalenz des komplexen Beziehungsgeflechts genug Raum lassen. Skizzenhafte Rückblenden in warmen Ockertönen und zeitgeistnahe Musik von Rio Reiser fügen sich allmählich zu einem vielschichtigen Puzzle zusammen, das zwar mit der allzu konventionellen Auflösung im Finale an Kraft einbüßt, dennoch aber als Ganzes auf ein großes neues Talent hoffen lässt.
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