Eine 14-Jährige leidet unter dem haltlosen Leben ihrer Späthippie-Eltern, die sich der Unstetigkeit verschrieben haben und unfähig sind, dem Mädchen Orientierung zu geben. Eine radikale Hinterfragung des antibürgerlichen Lebensstils aus der Sicht des betroffenen Kindes, das sich nach Normalität, Familie und Freunden sehnt, aber immer wieder auf sich zurückgeworfen wird. Der Film spiegelt Verzweiflung und Unsicherheit, aber auch Momente großer Freiheit, wobei er sich in seiner Ästhetik vorzüglich zum Lebensstil der Protagonisten anpasst.
- Ab 16.
Die Unerzogenen
- | Deutschland 2007 | 93 Minuten
Regie: Pia Marais
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2007
- Produktionsfirma
- Pandora Filmprod./WDR/SWR
- Regie
- Pia Marais
- Buch
- Horst Markgraf · Pia Marais
- Kamera
- Diego Martínez Vignatti
- Musik
- Jochen Arbeit · Yoyo Röhm · Horst Markgraf
- Schnitt
- Daniela Boch · Mona Bräuer
- Darsteller
- Céci Chuh (Stevie) · Birol Ünel (Axel) · Pascale Schiller (Lily) · Georg Friedrich (Ingmar) · Joana Preiss (Louise)
- Länge
- 93 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Diskussion
Merkwürdig aus der Zeit gefallen, wie Strandgut, wirkt dieser Film, dessen Farbpalette den Eindruck erweckt, der Film habe seinen ersten Kinoeinsatz bereits vor mehr als 30 Jahren gehabt. Es sind Sommerbilder, allerdings mit grünen und braunen Einschüssen, die nicht von ungefähr an die Filme der Münchener Sensibilisten wie Matthias Weiss oder Gerhard Theuring erinnern. Diese Ästhetik passt ausgezeichnet zum Lebensstil der Protagonisten von „Die Unerzogenen“, der auch direkt aus der Zeit nach der antiautoritären Revolte der späten 1960er-Jahre zu stammen scheint, als Drogen, freie Liebe und Hippies die bundesdeutsche Provinz infiltrierten.
Die Geschichte ist bekannt: „Ich will nicht werden, was mein Alter ist!“, sangen bereits vor mehr als einem Vierteljahrhundert Ton Steine Scherben. Damals galt als ausgemacht, wie das gemeint sein musste. Die Alten, das waren Spießer oder Faschos, die ihr Leben über Arbeit und materiellen Wohlstand definierten, während „die Jugend“ den antiautoritären Aufbruch probte. In Pia Marais Debütfilm sieht die Sache nun etwas komplizierter aus – hier sieht man, was aus umherschweifenden Hasch-Rebellen werden kann und wie es sich mit ihnen so lebt, wenn man ein Kind ist. Die Eltern der jungen Stevie sind noch immer nomadisierende Hippies, die in einer Clique mal ein paar Monate in Portugal, dann wieder einige Zeit in Deutschland leben. Ihr Lebensmotto könnte von Bob Dylan stammen und zeigt, welche tragikomischen Implikationen der Vorstellung des „Forever Young“ innewohnen. „Die Unerzogenen“ hat Momente großer Komik und tiefer Verzweiflung. Vater Axel (Birol Ünel ist hier endlich einmal wieder vorzüglich „typegecastet“) ist Kleindealer und nach 15 Monaten Knast gerade wieder draußen. Mutter Lily ist eine sich immer am Rande der Hysterie bewegende Alkoholikerin. Die Kleinfamilie bräuchte etwas gemeinsame Zeit für sich, aber dafür gibt es keinen privaten Raum, zumal die Beziehung zwischen Axel und Lily auch fortwährend neu erarbeitet sein will. Die 14-jährige Stevie (eine Entdeckung: Ceci Chuh) ist von dieser Überdosis Freiheit angeödet, sie schaut dem Treiben der Erwachsenen, ihren angejahrten Sprüchen und Posen, zunehmend angewidert zu und hätte gerne ein paar Regeln beim eigenen Heranwachsen. Vor ihren neuen Klassenkameraden fantasiert sich Stevie zur Diplomatentochter und hat alle Hände voll zu tun, diesen Schein zu wahren, zumal immer mehr alte Freunde der Eltern eintrudeln und ihr Zuhause in eine Kommune verwandeln. Dazu gehören auch Typen wie der völlig verunsicherte Ingmar, der so gern ein harter Bursche wäre und zwischen dem und Stevie eine untergründig erotische Beziehung entsteht, in der allerdings Stevie weitaus tougher erscheint.
„Die Unerzogenen“ erzählt in einer Atmosphäre lässigen Dahindämmerns von der kindlichen Sehnsucht nach Normalität, ohne deshalb gleich den hedonistischen Lifestyle der Eltern zu denunzieren. Stevie hätte es nur gerne ein wenig „spießiger“: Sie könnte sich vorstellen, länger als nur ein paar Monate an einem Ort zu verbringen, weil sie dann auch Freunde hätte. Sie könnte sich auch vorstellen, dass ihr Vater sich eine Arbeit sucht oder dass die Familie sich einmal ernsthaft miteinander auseinander setzt. Und wenn man das Treiben der in der Tat anstrengenden Erwachsenen verfolgt, dann kann man Stevie sehr gut verstehen. In gewisser Hinsicht ähnelt ihre Rolle derjenigen von Julia Hummer in Christian Petzolds „Die innere Sicherheit“ (fd 34 691): Die Rollen von Kindern und Erwachsenen scheinen in Marais’ Film geradezu vertauscht, weshalb der Filmtitel merkwürdig irritierend irrlichtert. Stevies Eltern laborieren immer noch daran, sämtliche Werte zu hinterfragen und zu überwinden, scheitern dabei aber immer wieder und sind überfordert, während Stevie sich gewissermaßen selbst „erfinden“ muss. Andererseits: Bevor sich Stevie abnabelt und ihres Weges geht, erlebt sie noch, dass ihre Klassenkameraden, die ganz andere Eltern gewohnt sind, Axel, Lily und die anderen eigentlich als ziemlich „cool“ und „abgefahren“ erleben. So sind die Dinge im Fluss, und die herrschende Ungleichzeitigkeit, Unsicherheit und Unentschiedenheit, die Verzweiflung und die Momente großer Freiheit sind mit Händen zu greifen.
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