Simin, die kluge, selbstbewusste Frau, die das rote Haar unter ihrem Schleier hervorblitzen lässt, möchte raus aus dem Iran. Ihre 14-jährige Tochter Termeh soll unter besseren Umständen aufwachsen. Nader, Simins Mann, will jedoch seinen an Alzheimer erkrankten und bettlägerigen Vater nicht zurücklassen. Im Streit darüber zieht Simin zu ihrer Mutter. Termeh bleibt bei ihrem Vater, den sie moralisch im Recht glaubt. Eine befreundete Lehrerin vermittelt Nader eine ungelernte Pflegekraft, die sich tagsüber um seinen Vater kümmern soll. Die schwangere Razieh lebt in ärmlichen Verhältnissen, ihr Ehemann ist arbeitslos; er darf auch nicht wissen, dass sie den Vater eines alleinerziehenden Mannes pflegt. Die streng gläubige Razieh fühlt sich in diesem frauenlosen Haushalt sichtlich unwohl. Sie scheut die Nähe zu dem alten Mann. Als ihre kleine Tochter, die sie mit zur Arbeit genommen hat, an seinem Sauerstoffgerät herumspielt, bemerkt sie es nicht. Dieser erste kleine Zwischenfall wirkt noch recht komisch. Naders Vater macht große Augen, während das neugierige Mädchen den Hahn auf- und zudreht. Alles geht gut. Noch.
Als sich der alte Mann dann aber einnässt, ist Razieh völlig überfordert. Sie ruft bei einer Koran-Hotline an und erhält die Erlaubnis, den Kranken auszuziehen und frisch zu machen. Trotzdem hat sie hinterher ein schlechtes Gefühl. Die Lage eskaliert, als Nader eines Tages nach Hause kommt und seinen Vater allein vorfindet: Die Hände noch ans Bett gebunden, liegt er auf dem Fußboden. Wie es dazu kam, bleibt zunächst ungeklärt. Razieh kehrt zurück, und Nader wirft sie wutentbrannt aus der Wohnung, stößt sie durch die Tür. Was dann geschieht, sieht man nicht. Razieh behauptet später, Nader habe sie die Treppe hinunter gestoßen, dabei sei sie so unglücklich gestürzt, dass sie ihr ungeborenes Kind verloren habe. Plötzlich sieht sich Nader mit einem Mordvorwurf konfrontiert. Er behauptet, nichts von Raziehs Schwangerschaft gewusst zu haben, streitet ab, sie gestoßen zu haben, und erstattet seinerseits Anzeige gegen Razieh, da diese seinen Vater misshandelt habe. Vor dem Untersuchungsrichter prallen mit dem kultivierten, wohlhabenden, modern denkenden Nader und Raziehs ungebildetem, jähzornigen, traditionsverhafteten Ehemann zwei Welten aufeinander. Welche der beiden Seiten moralisch im Recht ist, lässt die Inszenierung lange offen, im Grunde über das Ende des Films hinaus.
Möglicherweise spiegelt sich im Verhalten Naders, der dem Richter nicht immer die ganze Wahrheit sagt und sogar seine Tochter zu einer Lüge nötigt und damit in arge Gewissensnöte stürzt, auch die Haltung eines Filmemachers wider, der die direkte Konfrontation mit dem Regime scheut, weil er mit seinem Kino im Lande bleiben möchte, und dessen Filme – anders als die Werke von Rafi Pitts oder Jafar Panahi – im Iran tatsächlich auch gezeigt werden. Unmittelbar regimekritisch ist der Film von von Asghar Farhadi jedenfalls nicht. Die Repräsentanten des Staates, Polizisten, Richter, werden eher wohlwollend dargestellt: durchaus geduldig, unvoreingenommen, an der Wahrheit interessiert. Eine wesentliche Rolle spielen diese austauschbaren Funktionsträger bei der individuellen Wahrheitsfindung allerdings auch nicht. Ähnlich wie in Farhadis „Elly... “
(fd 40 245), in dem eine junge Frau spurlos verschwindet, kreist auch der „Berlinale“-Gewinner um Leerstellen, offene Fragen und ungelöste Rätsel. Warum ließ Razieh Naders Vater allein? Hat sie ihr Kind wirklich bei einem Sturz verloren? Farhadi nähert sich diesen Fragen im Verlauf des Films von wechselnden Standpunkten, ohne abschließend Stellung zu beziehen. Was sich wirklich abgespielt hat, bleibt lange ungewiss. Klar ist nur, dass auf beiden Seiten gelogen, taktiert und vertuscht wird. Je länger es dauert, bis die letzte Wahrheit offenbart wird, desto eher kann man die Beweggründe für dieses Versteckspiel nachvollziehen.
Auf diese schleichende, unterschwellige Weise formt sich aus dem, was nicht gezeigt, was verschwiegen, geleugnet wird, das Bild einer bis ins Innerste verunsicherten, von moralisch-religiösen Zwängen überfrachteten, heuchlerischen und zutiefst gespaltenen Gesellschaft. Schon in „Elly...“ finden die jungen Leute, die in ihrem Wochenendhäuschen einen eher westlich geprägten, offenen Lebensstil pflegen, und Ellys Verlobter, der die konservative, tabubeladene männerdominierte Unterschicht repräsentiert, keine gemeinsame Sprache. Dieser gesellschaftliche Graben, der allenfalls mit Lügen und Halbwahrheiten notdürftig kaschiert werden kann, ist die eigentliche „Trennung“, die Farhadi auch in seinem Film thematisiert; nicht etwa, wie der Titel vermuten lässt, die mögliche Scheidung von Nader und Simin.
Farhadi präsentiert diese gesellschaftliche Bestandsaufnahme nicht in Großbuchstaben, öffnet mit seinem Film lediglich einen Deutungsspielraum dafür. Vordergründig richtet er seinen Blick auf den Alltag, den Einzelfall, seine facettenreich angelegten, wunderbar verkörperten Charaktere. Iran hin, Teheran her, dreht sich doch erst einmal alles darum, wer lügt und warum, was wirklich geschehen ist, wer Recht hat und wer sich am Ende durchsetzt. Das ist spannend wie ein Krimi; allerdings in der Neo-noir Variante, weil letztlich alle Verlierer sind. Man muss die Augen schon sehr verschließen, um in dieser Ausweglosigkeit keine gesellschaftliche Dimension, keine Sozialkritik zu erkennen. In einer totalitären Gesellschaft wie der des Irans bedeutet das indirekt immer auch eine Kritik am Regime. Dass Farhadi sich mit „Nader und Simin“ nicht bereitwillig ins Gefängnis oder Exil inszenierte, mag in manchen Feuilletons bedauert werden; vorwerfen sollte man es ihm nicht. Ironischerweise ist die vielleicht erzwungene zurückhaltende, differenzierte Erzählweise dramaturgisch und inszenatorisch für den Film ein Gewinn.