Das Klacken des Wasserglases, das auf einer Tischplatte abgesetzt wird, wirkt wie ein Schock. In einer Albtraumsequenz dringt in die stille Welt des Stummfilm-Stars George Valentin auf einmal grausam der Alltagslärm: Für George sind all die Atmo-Geräusche, die man normalerweise kaum wahrnimmt, eine unerträgliche Kakophonie, eine Vergewaltigung. Welch ein Segen, als er aufwacht und alles wieder so ist, wie es sein soll: stumm. In seinem „Buch der Illusionen“ ließ Paul Auster seinen Protagonisten ein Hohelied auf die „untergegangene Kunstform“ des Stummfilms anstimmen. Für ihn waren die frühen Filme „so frisch und belebend wie damals, als diese Werke zum ersten Mal gezeigt worden waren“, und zwar weil sie „die Sprache beherrschten, die sie da sprachen. Sie hatten eine Syntax des Auges, eine Grammatik der reinen Bewegung erfunden, und wenn man einmal von den Kostümen, den Autos und den kuriosen Möbeln im Hintergrund absah, konnte nichts davon wirklich alt werden. Hier wurden Gedanken in Handlung übersetzt, hier drückte sich der menschliche Wille durch den menschlichen Körper aus, und dies war etwas, was zu jeder Zeit Gültigkeit besaß.“ „The Artist“, der auf Geräusche, Sprache und Farbe verzichtet und filmisch einen ähnlichen Hymnus auf die Poetik des frühen Kinos anstimmt, setzt auf diese Gültigkeit und liefert gleichzeitig den Beweis dafür: Der Film ist mit seiner Fülle an Inszenierungseinfällen schlicht bezaubernd.
Die Handlung spielt an jener Schnittstelle der Filmgeschichte, die schon den Stoff für „Singin’ in the Rain“ (fd 1944) lieferte: Es geht um die Ablösung der Stummfilme durch die „Talkies“. Wie im Musical-Klassiker dreht sich auch hier die Handlung um Hollywood-Schauspieler, die angesichts der Veränderungen des Mediums teils auf der Strecke bleiben, teils mit dem Siegeszug der sprechenden (und singenden) Filme ihren großen Durchbruch erleben. „Singin’ in the Rain“ feierte diesen Siegeszug in seiner Handlung und schlug sich auch stilistisch auf die Seite des Neuen: Der Ton und die Sprache, längst etabliert als filmische Erzählmittel, waren ganz selbstverständlicher Teil der Geschichte. „The Artist“ dagegen verschwört sich mit den Untergegangenen, indem er den Zuschauer in die Fiktion einer stummen Welt entführt, in der außer der Musik aus dem Off alles schweigt. Stumm, aber umso beredter! Denn die Einstellungen, die Montage, die Musik, die Requisiten, die Räume, die Gesichter, die Körper der Schauspieler strotzen nur so vor Ausdruckslust. Etwa, wenn es um die Liebe geht: Ein Mädchen, ein unbekanntes kleines Starlet, schwärmt für den schneidigen Stummfilm-Star George Valentin, dessen Lächeln mindestens so umwerfend ist wie das von Douglas Fairbanks. Die erste Kontaktaufnahme erfolgt mittels eines Dialogs der Beine: Durch eine Leinwand voneinander getrennt, unter der nur die Waden hervorschauen, müssen Tanzschritte zur Verständigung ausreichen. Später, während sie in seiner Garderobe auf ihn wartet, geht sie auf Tuchfühlung mit seinem Frack: Der ist auf einem Kleiderständer so aufgehängt, dass sich das It-Girl wunderbar in seine Ärmel kuscheln kann, als wären es die Arme des Besitzers. Schon weiß man exakt, was die Heldin für George empfindet. Später treffen er und seine Verehrerin sich auf einer Treppe in einem Studiogebäude, und da sieht man ganz plastisch und erzählökonomisch kompakt, wie es mit seiner Karriere bergab geht, weil er den Tonfilm aus Prinzip ablehnt, während sie als angehender Star der Talkies die Karriereleiter hinaufklettert. Als George im Folgenden eine Talfahrt erlebt, die nicht nur sein Berufs-, sondern auch sein Privatleben an den Rand des Abgrunds drängt, duldet er irgendwann nur noch seinen Hund (ein Nachfahre von Asta aus den „Dünne Mann“-Filmen) als Gefährten im Elend. Wie gut, dass eine alte Frau, im Gegensatz zu dem jungen Polizisten, dessen sprachlose Gebärden noch richtig interpretieren kann. So gelingt es dem Tier, rechtzeitig Hilfe zu holen, um sein Herrchen zu retten – das hat nämlich gerade die Filmrollen, die Überbleibsel seiner einstigen Ambitionen, in Brand gesetzt und droht, mit ihnen zu verbrennen.
Wie in seinen Agentenfilmparodien „OSS 117“, in denen Jean Durjardin ebenfalls die Hauptrolle spielte, ist das Hauptthema von Regisseur Michel Hazanavicius auch hier vor allem das Kino selbst. Auch wenn es nominell so tief ins Elend hinein geht wie in „A Star Is Born“
(fd 23 684), ist „The Artist“ inszenatorisch kein Melodram – zu dominant bleibt der überbordende Spaß am Spiel mit den filmischen Erzählmitteln. Das Stummfilm-Kino wird nicht schlicht nachgeahmt, vielmehr entfaltet „The Artist“ seinen Charme als Meta-Film, der vor allem davon handelt, was die ureigene Magie des Mediums ausmacht. Dabei gelingen Szenen, die sich durchaus mit jener Sequenz messen können, in der Gene Kelly einst singend und tanzend durch den Regen platschte: Momente, in denen im Kino zu sein reines Glück bedeutet.