Wahrscheinlich sollte man um das Jahr 1960 geboren sein, um das zutiefst sentimentale und doppelbödige popkulturelle Angebot, das Nicolas Winding Refns „Drive“ dem Zuschauer macht, angemessen würdigen zu können. Dann nämlich wird man diese spezifische Mischung von männlicher Askese, Einsamkeit und Professionalität, die den namenlosen Protagonisten charakterisiert, sofort identifizieren können. So, wie sich Jesse Lujack in Jim McBrides „Atemlos“
(fd 24 209) auf Jerry Lee Lewis, den Silver Surfer und Jean-Paul Belmondo bezieht, so bezieht sich Refn mit „Drive“ auf Referenzen, die einer bestimmten Alterskohorte des Publikums allzu vertraut sind – ohne deshalb seinem Film die Autonomie zu nehmen. Refn spielt eher mit spezifischen Stimmungen und Atmosphären, als dass er plump das direkte Filmzitat wählen würde. „Drive“ ist eine so ausgeklügelte wie passionierte Hommage an den Professional und Einzelgänger, wie man ihn exemplarisch aus Filmen von Jean-Pierre Melville („Der eiskalte Engel“, fd 33 816), Sam Peckinpah („Getaway“, fd 18 305), Martin Scorsese („Taxi Driver“, fd 19 983) oder William Friedkin („Leben und Sterben in L.A.“, fd 25 540) kennt. Doch bereits in deren Neo Noir-Filmen war die Figur des Outlaw und Samurai ein Pop-Mythos aus zweiter Hand, ein Pop-Mythos ohne Anbindung an die Realität, ein reines Kino-Zeichen.
Refns namenloser Driver ist ein solcher Professional. Tagsüber schraubt er in einer Autowerkstatt oder arbeitet als Stuntman, nachts verdingt er sich als cool-souveräner Fluchtfahrer für Kriminelle, denen er für fünf Minuten sein Know-how zur Verfügung stellt. In diesen fünf Minuten sind sie vor dem Zugriff der Polizei geschützt. „Privat“ ist der Driver ungebunden, sehr zurückhaltend, wortkarg und scheint eher sanft zu sein; ein cooler Typ ohne Geschichte, aber mit einer so einprägsamen Jacke,
wie sie einst Sailor in „Wild at Heart“
(fd 28 529) trug. Einige Szenen genügen Refn, um diese Figur zu etablieren. Ryan Gosling agiert mit einer unglaublichen Zurückgenommenheit, die jeden Blick, jede Körperhaltung bedeutsam werden lässt. Doch dann – bislang lief alles glatt – tritt die Frau, die man beschützen muss, in sein Leben, und der Professional verwandelt sich nach und nach und wider besseres Wissen in einen Menschen. Die Begegnung mit der Frau ist reiner Zufall. Sie ist reizend, heißt Irene, ist alleinerziehende Mutter eines fünfjährigen Sohns. Irenes Mann, Standard Gabriel, sitzt (noch) im Knast. So begegnen sich zwei verlorene Seelen, die sich sanft zueinander hingezogen fühlen. Beide könnten einander erlösen. Doch es kommt, wie es kommen muss – und auch wieder nicht. Denn von Standard Gabriel geht zwar keine Gefahr aus, doch mit seinem Erscheinen gerät der Film trotzdem in eine Schussfahrt der Gewalt. Beim Versuch, Gabriel und damit auch Irene zu helfen, gerät der Driver in eine schwer zu durchschauende Intrige zwischen der East-Coast-Mafia und den West-Coast-Gangstern. Es stehen Millionen auf dem Spiel – und die Gegner sind nicht zu unterschätzen. Auch dem Driver verlangen sie in der Fluchtbewegung sein ganzes Können ab.
Gerade weil man diese Geschichte bereits in nuce kennt, kann man genießen, wie Refn ihre Genre-Einzelteile anordnet und dabei entschieden ästhetische Akzente setzt: Während die dynamischen Nachtszenen von der Lichtsetzung und der Montage an Filme wie „Driver“
(fd 21 066) von Walter Hill oder „Collateral“
(fd 36 686) von Michael Mann erinnern, scheinen die trägen Tagszenen mit ihrer grünen und ockerfarbenen Schäbigkeit direkt aus den frühen 1970er-Jahren zu stammen. Der trashige Electro-Pop, dessen formelhafte Texte („a real human being and a hero“) teilweise sogar noch eine (ironisch?) kommentierende Funktion haben, passt wiederum zu den 1980er-Anleihen, während der Electro-Score von Cliff Martinez aus der Gegenwart stammt. Bis in die Besetzung der Nebenrollen (Ron Perlman, Albert Brooks) spielt Refn ein überhöhtes Spiel mit der Meta-Pop-Referenz, allerdings ohne die Ironie-Signale Quentin Tarantinos.
Als sich der Driver schließlich unprofessionell, aber emotional nachvollziehbar aus der Deckung wagt, lässt er sich auf ein Spiel ein, dass bestenfalls Irene eine Zukunft garantiert. In der Schlüsselszene des Films, die in einem Fahrstuhl spielt, kommen die widerstrebenden Emotionen des Films ein einziges Mal zusammen: Auf den ersten Kuss folgt eine derartige Eruption der Gewalt, dass diese Irene fassungslos zurücklässt. Auch die an Kleist erinnernde Ballung von Widersprüchen gehorcht einer konsequenten Künstlichkeit, die den Film zu einer grandiosen Abfolge mythisch verdichteter Genre-Szenen macht. „Drive“ ist ein Klassiker, der ein Klassiker sein will. Kino, das sich selbst als Kino und als nichts als Kino entwirft.