Gemeinhin illustriert man die Genese des Linksterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Hinweis auf drei Ereignisse: die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg am Abend des 2. Juni 1967, die Frankfurter Kaufhausbrandstiftung am 2. April 1968 sowie das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968. Dazu zeigt man Bilder vom Vietnam-Krieg, demonstrierende junge Menschen, Jubelperser, die mit Dachlatten auf Demonstranten einschlagen, und einen wild gestikulierenden Rudi Dutschke. Je nach Gemütslage eignet sich als Soundtrack entweder „Street Fighting Men“ der Rolling Stones, „Revolution“ von den Beatles oder, etwas melancholischer, „For what it’s worth“ von Buffalo Springfield. So weit, so bekannt – bei Stefan Austs „Der Baader Meinhof Komplex“ nachzulesen und in der gleichnamigen Verfilmung
(fd 38 920) zu bestaunen. Bei Aust kann man auch auf wenigen Seiten nachlesen, wovon Andres Veiels erster Spielfilm handelt. Für den Dokumentaristen Veiel, der sich bereits wiederholt mit der Materie auseinander gesetzt hat, war allerdings ein anderes Buch wichtiger: Gerd Koenens „Vesper Ensslin Baader“ (2003), das in einer Reihe von Tiefenbohrungen die Entstehung des linken Terrorismus offen zu legen versuchte. Diese Perspektiverweiterung auf die Figur des Schriftstellers und Verlegers Bernward Vesper – erster Lebensgefährte Gudrun Ensslins und Sohn eines Blut-und Boden-Dichters – bot reichlich neues Material für eine jener Milieustudien, wie sie Veiel seit jeher faszinieren. Insofern erweitert der Spielfilm „Wer wenn nicht wir“ die Vorarbeiten „Die Überlebenden“
(fd 32 143) und „Black Box BRD“
(fd 34 861) um einige Nuancen, die allerdings wohl nur diejenigen überraschen werden, die nicht mit der Materie vertraut sind. Wer hingegen bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte der RAF, der Neuen Linken, der Studentenbewegung über die Eckpfeiler Eichinger/Edel, Breloer und Knopp hinausgelangt ist, wird von Veiels Film enttäuscht. Und zwar inhaltlich wie formal.
In erster Linie, und das bis zu den Achselhaaren der Hauptdarstellerin Lena Lauzemis, ist „Wer wenn nicht wir“ nämlich eine Ausstattungsorgie, die den Mief der frühen 1960er-Jahre in der schwäbischen Provinz fühlbar macht. So intensiv der Film in Dekors schwelgt, so ungreifbar bleiben dagegen die Figuren. Tatsächlich passiert hier etwas, was man von dem sonst so sorgfältig arbeitenden Veiel nicht erwartet hätte: Der Film besteht aus lauter Einzelszenen, die Thesen, Pointen, Rechercheergebnisse illustrieren. Im Grunde ist Veiels filmischer Diskurs durchaus demjenigen von „Der Baader Meinhof Komplex“ vergleichbar, nur dass Veiels Stoff weniger auf spektakuläre Action aus ist. Veiel rekonstruiert die 1960er-Jahre gewissermaßen aus der Perspektive des Literaturbetriebs, allerdings auch hier mit erstaunlichen Unschärfen. Vespers mehr als schillernde Auseinandersetzung mit der Literatur wird auf zwei, drei Sprüche reduziert. Herausgestrichen wird die politische Kontingenz der Aktivitäten des eigenen Verlags, wo man sich einerseits für den verfemten Nazi-Schriftsteller Will Vesper stark macht, andererseits die hochkarätig besetzte Anthologie „Gegen den Tod“ publiziert. Dass Vesper in Tübingen mit Walter Jens über neuere und neueste Literatur disputiert, ist aus heutiger Perspektive besonders lustig, wenn sich Jens, mittlerweile als Parteimitglied identifiziert, zum moralischen Richter über Nazi-Dichter aufspielt. Veiel jedoch nutzt nur das Bild des liberalen Hochschuldozenten. Während er andererseits manche Szene bereits aus dem Wissen um den weiteren Verlauf der Geschichte gestaltet, wenn etwa gleich zweimal der Vorschlag des „Black Panther“ Stokely Carmichael im Film erscheint: Der rät Vesper, stellvertretend für alle Weißen, die sich mit dem Kampf der „Black Panther“ solidarisieren: „I tell you what you can do: Go home, kill your wife, father and mother, then hang up yourself!“ Was Vesper und Ensslin ja irgendwie beherzigt haben. Während der Film also einerseits sehr an der Oberfläche bleibt, setzt er an anderer Stelle geradezu Kennerschaft voraus; etwa, wenn er die Rolle der USA in der Biografie Ensslins nur andeutet oder wenn er zeigt, wie Vesper in Berlin in den literarischen Zirkel des Wahlkontor der SPD aufgenommen wird, aber unklar bleibt, mit wem er es hier zu tun hat. Es ist eine hoch interessante intellektuelle Gemengelage, von der man sich wünscht, dass sie Veiel viel genauer ausgebreitet hätte. Veiel entlastet seinen Film von der Aufgabe, allzu viel Zeitkolorit in Dialog überführen zu müssen, durch den „raunenden“ Einsatz von Dokumentarmaterial in Verbindung mit Popmusik – nur, dass bei Veiel dann zu den Bildern von 2. Juni 1967 nicht mehr die Stones, sondern Lovin’ Spoonful zu hören sind: „Summer in the City“. Zur privaten Liebesgeschichte zweier junger Menschen gesellt sich die große Politik als Hintergrundrauschen: Kuba-Krise, Kennedy, Vietnam.
Auf dieser Ebene ist Veiel nur ein weiterer unorigineller Beitrag zu einem viel beackerten Feld gelungen. Schwerer wiegt noch, wofür er gar keine Bilder gefunden hat: für den Eros der Revolte. Für alles, was mit der Modernisierung der Lebenswelten, mit Pop, Musik, Kino, Drogen zu tun hat. Wenn Aufbruch in der Luft liegt, wird ein wenig zu dritt herumgeknutscht und mit Rotwein gekleckert; alles, was wohl auch „geil“ war bei jenem Aufbruch, all die Projekte, die Teach-ins und der Lektürewahnsinn jener Zeit, dafür findet Veiel überhaupt keinen filmischen Ausdruck. Es fehlt alles, was Christopher Roths „Baader“
(fd 35 624) zu einem großen Wurf machte. Wo Roth durch die Injizierung einer ordentlichen Ladung die Mythenbildung um die RAF aufsprengte, schafft sich Veiel ein Alter Ego im Film: in Gestalt einer Gefängnisleiterin, die versucht, Gudrun Ensslin den Marsch durch die Institutionen schmackhaft zu machen. Daraus wird nur dann ein Schuh, wenn man – wie Veiel es anscheinend tut – seinen Ausflug in die Geschichte mit den aktuellen Bürgerprotesten in Verbindung bringt – und darin Vorboten einer Re-Politisierung der Gesellschaft erkennen will. Was man kann, aber sicher nicht muss.