Hunderttausende Menschen in Guatemala wurden am Ende des 20. Jahrhunderts Opfer eines beispiellosen Völkermords, verübt von Polizei und Armee. Festgemacht an der Arbeit in den Archiven der Geheimpolizei, wo die Geschichte des Staatsterrors von jungen Archivkräften untersucht wird, entwickelt sich der Dokumentarfilm zum klaustrophobisch-poetischen Essay, das suggestiv die Gräueltaten und ihre Auswirkungen auf die Generation der Nachgeborenen beleuchtet. (O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 14.
La Isla - Archive einer Tragödie
Dokumentarfilm | Deutschland/Guatemala 2009 | 85 Minuten
Regie: Uli Stelzner
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Filmdaten
- Originaltitel
- LA ISLA
- Produktionsland
- Deutschland/Guatemala
- Produktionsjahr
- 2009
- Produktionsfirma
- ohne gepäck filmproduktion/iskacine/Asosciación Luciernaga
- Regie
- Uli Stelzner
- Buch
- Uli Stelzner
- Kamera
- Guillermo Escalón
- Musik
- Paulo Alvarado · Nim Ala
- Schnitt
- Alina Teodorescu
- Länge
- 85 Minuten
- Kinostart
- 03.06.2010
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Berge von vergilbten Akten stapeln sich am Anfang des Dokumentarfilms „La Isla – Archive einer Tragödie“. Menschen mit weißem Mundschutz und Gummihandschuhen sortieren, konservieren und analysieren vorsichtig Blatt für Blatt. Die schiere Aktenfülle, die Manie der Diktatur, die eigenen Verbrechen minutiös in Amtssprache und in Formeln festzuhalten, erinnert zwangsläufig auch an die deutsche Geschichte. In Guatemala, so zeigt es der deutsche Regisseur Uli Stelzner, hat der Versuch, die belastenden Akten zu beseitigen, dazu geführt, dass einzigartige Archive ans Licht kamen: Die „Archive einer Tragödie“, Archive, die Staatsterror über Jahrzehnte und einen Völkermord in einer Unzahl von Einzelschicksalen belegen. Fast 80 Millionen Akten lagern in „La Isla“; die ältesten datieren auf das Jahr 1905. Die größte Aufmerksamkeit widmen Konservatoren und der Film jenen aus der Zeit des Bürgerkriegs von 1960 bis 1996. Neben der Erinnerungsarbeit geht es auch darum, ungesühnte Verbrechen aufzuklären. Es werden die Namen der Opfer genannt, jener in die Hunderttausende gehenden „Desaparecidos“, die Verschwundenen und Ermordeten. Oft werden auch die Namen der Mörder genannt. 2005 gab es eine große Explosion auf dem Gelände einer Polizeischule in Guatemala-Stadt. Früher war dort „La Isla“, ein Geheimgefängnis der berüchtigten Kommandos der Policia Nacional, die als ausführender Arm der Militärdiktaturen fungierten. Unschuldige wurden dorthin verschleppt, sie wurden dort gefoltert und ermordet. Die Explosion war wohl ein Versuch, die Archive zu zerstören – hat aber erst zu deren Entdeckung geführt. Nun sitzen junge Leute in den dunklen, fensterlosen Räumen des ruinösen Gebäudes und arbeiten die guatemaltekische Vergangenheit auf – und ihre ganz persönliche, denn praktisch jeder der Konservatoren ist persönlich betroffen, findet beim Sortieren Dokumente über den eigenen Vater, die eigene Mutter. Der 28-jährige Rolando wirkt sehr gefasst, wenn er von der Tragödie seiner Familie erzählt. Das gilt für fast alle Protagonisten und legt eine schreckliche Wahrheit nahe: Der Staatsterror und seine Nachwirkungen sind zum Alltag geworden. Nahezu jeder, der nicht der herrschenden Oligarchen-Klasse angehörte, hat Familienangehörige verloren. Rolandos Vater wurde Monate vor seiner Geburt erschossen, seine Mutter verbrachte 1983, schwanger mit ihm, mehrere Wochen im Gefängnis. Danach ging sie nach Mexiko ins Exil.
Das Konservieren und Katalogisieren von Akten scheint filmisch betrachtet kein besonders verlockender Vorgang zu sein. Der Regisseur, der in Berlin und Mittelamerika lebt, löst diese Herausforderung eindrucksvoll. Das anklagende Gedicht, das zu Beginn des Films zunächst in der Mayasprache K’ackchikel gesprochen wird, weist die Richtung: Stelzner konzipierte „La Isla“ als eine Art klaustrophobisch-poetischen Essay aus Dokumenten und Interviews. Einen Kommentar aus dem Off gibt es nicht. Das sorgfältig recherchierte Archivmaterial aus alten Fernsehreportagen wird an Wände projiziert, ebenso wie die Fotos von Verschwundenen und Ermordeten. Die Konservatoren zitieren aus Akten; wiederholt wird aus CIA-Dokumenten vorgelesen, die die Mittelamerika-Politik der US-Regierung erhellen: „Mord, Folter und Verstümmelung sind in Ordnung, so lange sie von unserer Seite ausgehen und die Opfer Kommunisten sind“. Ein Geschwisterpaar, das Einsicht in die Akten erhält, berichtet von der Auslöschung eines großen Teils seiner Familie. In kurzen Zwischenspielen sind die Polizeischüler draußen zu sehen, sie exerzieren und skandieren in schwarzen Uniformen, manche mit Gasmaske und Maschinengewehr. Sehr reduziert eingesetzt und ohne Pathos ist ab und an ein Cello zu hören. Der Cellospieler ist dann auch zu sehen, in den Gängen des Gebäudes und einmal auch außerhalb auf einem Autofriedhof. Das Cello liefert die einzige Filmmusik – bis auf den Rap am Ende des Films: Einer der Mitarbeiter, dessen Gesicht man vorher nicht zu sehen bekam, nimmt seinen Mundschutz ab und beginnt zu singen. Es sind die Worte vom Beginn. Am 16. April 2009 war die Kinopremiere von „La Isla“ in Guatemala-Stadt. Weder eine Bombendrohung noch das Kappen der Stromversorgung konnten sie verhindern.
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