Langzeitstudie über zwei junge Architekten, die 2004 einen englischen Wettbewerb um eine "Landmark East" mit der Idee gewannen, eine im Meer versunkene Stadt in Gestalt ihrer Kirchen als moderne Kunstwerke auf dem Wasser wieder erstehen zu lassen. Doch zwei Anläufe, den prämierten Entwurf zu realisieren, scheiterten. Ein spannender, lakonisch intonierter Dokumentarfilm über zwei Berufsanfänger und ihren Kampf gegen ein kafkaeskes Knäuel aus Paragraphen, Interessen und finanziellen Engpässen.
Lost Town
Dokumentarfilm | Deutschland 2004-09 | 93 Minuten
Regie: Jörg Adolph
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2004-09
- Produktionsfirma
- Caligari Film/BR/WDR
- Regie
- Jörg Adolph
- Buch
- Jörg Adolph
- Kamera
- Jörg Adolph · Luigi Falorni · Josef Mayerhofer · Daniel Schönauer
- Musik
- Console
- Schnitt
- Anja Pohl
- Länge
- 93 Minuten
- Kinostart
- 22.04.2010
- Fsk
- ab 0 (DVD)
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
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Heimkino
Diskussion
Das Filmplakat hält eine bestechende Vision fest: In Sichtweite des ostenglischen Ufers ragen die Umrisse einer mittelalterlichen Kirche aus dem Wasser, von schräg aus den Wolken fallenden Sonnenstrahlen fast mystisch illuminiert. Wie in einem Gemälde Caspar David Friedrichs glitzert und leuchtet es übers bläulich-dunkle Meer: ein Hingucker, der einen packt und nicht mehr loslässt. Von diesem „Bauwerk“, das bislang nur als Entwurf existiert, geht eine beträchtliche Magie aus, die sich bei weitem nicht in der suggestiven Animation der Architekten erschöpft. Mit ihrer Idee, das durch Küstenerosion vom Meer verschluckte Städtchen Dunwich in Gestalt seiner Kirche(n) wiedererstehen zu lassen, stachen die Münchner TU-Studenten Anne Niemann und Johann Ingrisch 2004 alle Mitbewerber aus, die sich am internationalen Wettbewerb um eine „Landmark East“, ein Wahrzeichen für die strukturschwache Region Essex beteiligten. Ihr bestechender Vorschlag: glänzende Metallstelen, fest im Untergrund verankert, bilden die Konturen der Gotteshäuser nach, die je nach Licht, Wetter, Seegang und Perspektive in ständig wandelnder Gestalt erscheinen.
Zur Preisverleihung reisten die Sieger in Begleitung des Dokumentaristen Jörg Adolph an, der ein Faible für Menschen in außergewöhnlichen Situationen hat. Doch aus der Beobachtung zweier Berufsanfänger bei der Realisierung ihres ersten Projekts wurde nichts; selbst fünf Jahre und 170 Stunden Mini-DV-Material später ist „Lost Town“ noch immer lediglich eine Vision, auch wenn unzählige Menschen in der Zwischenzeit mit dem Projekt befasst waren. Auf einen knappen, arg verkürzenden Nenner gebracht, fehlt es an Geld, um die stählernden Kirchenschiffe bauen zu können. Die Finanzen sind allerdings nur der greifbarste Aspekt im kafkaesken Knäuel jener unzähligen Prozesse, die von einem Architektur-Wettbewerb (im gelingenden Falle) zum Richtfest führen. Die jungen Architekten fest im Blick, schlägt die Inszenierung eine Schneise ins Dickicht der Paragraphen und Interessen, die spannender nicht sein könnte: Zwei Mal scheitern die prämierten Eleven, zunächst in Dunwich, weil die Bewohner des Örtchens mehr Angst vor den touristischen Veränderungen haben, die das Wahrzeichen mit sich bringen würde, als vor der jährlich etwa um einen Meter fortschreitenden Küstenerosion. Kurz bevor das Duo alle Hoffnung auf eine Realisierung fahren lässt, eröffnet sich plötzlich in einer anderen Küstenstadt eine neue Chance, weil hier der Bürgermeister das Potenzial der „Landmark“ erkennt.
Wieder streitet die Bürgerschaft in einer „Courtroom“-reifen Dramaturgie um das Für und Wider – und erneut scheitert der Anlauf letztlich an pekuniären Hürden. Zu diesem Zeitpunkt schreibt man allerdings schon das Jahr 2009, was sich auch in den Gesichtern der Protagonisten und ihrem Verhältnis untereinander niedergeschlagen hat. Der Film spart zwar psychologische Untertöne oder Fragen nach der Motivation ihres Tuns aus, lässt in den beredten Momentaufnahmen, in denen er über die Jahre hin bei entscheidenden Situationen unmittelbar präsent ist, durchaus Schlüsse auf das Innenleben der Architekten zu. Mehr als für Gefühle interessiert sich Adolph jedoch für habituelle Gesten und die Rolle der Architekten, die sich vor jedem „Auftritt“ standesgemäß kleiden und schminken, bei den öffentlichen Hearings der Bürgerschaften oder in Konferenzen potenzieller Geldgeber dennoch oft nur den Part von Statisten innehaben. Der lakonisch intonierte, mit vielen Auslassungen und unmerklichen Verschiebungen arbeitende Film widmet sich zwar auch den vielen Mitspielern in diesem Drama, und das in einer ausgesprochen fairen, absolut nicht disqualifizierenden Weise, ist als Langzeitstudie im Kern aber auf die Architekten Niemann und Ingrisch fokussiert, was ihn deutlich von einer politischen Auseinandersetzung wie etwa Klaus Sterns „Henners Traum“ (fd 39 206) unterscheidet. Das mag manchem zu wenig erscheinen, sollte aber nicht verdecken, dass das Politische an „Lost Town“ der Film selbst ist, der als offenes Projekt über fünf Jahre lang seinen Gegenstand verfolgte und im Grunde auf eine Fortsetzung (nach einem „Go“ für das Projekt) hofft – eine extrem rare Ausnahme unter den gegenwärtigen Bedingungen des dokumentarischen Filmschaffens in Deutschland.
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