Mein Herz sieht die Welt schwarz - Eine Liebe in Kabul

Dokumentarfilm | Deutschland/Afghanistan 2009 | 86 Minuten

Regie: Helga Reidemeister

Dokumentarfilm über ein Liebespaar im vom Krieg gezeichneten Kabul, das aufgrund familiären Drucks nicht zusammenkommt. Der Mann verfügt als arbeitsunfähiger Kriegsversehrter nicht über die nötigen Mittel zum Heiraten, die Frau wurde vom Oberhaupt ihres Clans bereits mit einem zahlungskräftigen Ehemann verheiratet. Mit großer Nähe zu seinen Protagonisten beleuchtet der Film familiäre und gesellschaftliche Strukturen in Afghanistan, die der angestrebten Demokratisierung diametral entgegen stehen, angesichts der desolaten wirtschaftlichen und politischen Zustände jedoch den einzigen Halt der Menschen darstellen. (O.m.d.U.) - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Afghanistan
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
OHNE GEPÄCK/WDR/SWR
Regie
Helga Reidemeister
Buch
Helga Reidemeister
Kamera
Lars Barthel
Schnitt
Marzia Mete
Länge
86 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Eine Autofahrt entlang der vom Krieg verwüsteten Stadtlandschaft Kabuls. Die Kamera fängt die trüben, grau-lehmigen Farben einer bis auf die Grundmauern zerbombten Kapitale ein, die in Schlamm und Morast versinkt. Ein notdürftig hochgezogenes Haus in der Totalen, davor ein Mann, gestützt auf ein Gestell, mühsam seine regungslosen Beine hinterher schleppend, der sich auf die Kamera zu bewegt, neugierig und verhalten zugleich. Hossein, durch Granatsplitter querschnittsgelähmt, ist Invalide und kann nicht arbeiten. Plötzlich taucht im Hof Schaima auf, mit ihrer kleinen Tochter Sabna. Seit ihrer Kindheit verbindet Hossein und Schaima eine tiefe Zuneigung, die mittlerweile zu einer „unmöglichen“ Liebe herangereift ist: er kriegsverletzt, sie zwangsverheiratet, kämpfen beide gegen den Widerstand ihrer Familien, um ihre Liebe leben zu dürfen. Die Liebe hat sie unbeugsam gemacht, der Tabubruch in Lebensgefahr gebracht; ihr emanzipatorischer Impetus hat aber auch Erkenntnisse befördert, die soziokulturelle Barrieren sichtbar bzw. erahnbar werden lassen: Stammesgesetze, Patriarchat, soziale Kontrolle, Kriegsökonomie, Zwangsheirat – eine Heiratspolitik übrigens, die in der afghanischen Tauschgesellschaft neben Kriegswirtschaft und Drogenhandel für Normalsterbliche die letzte Bastion des Überlebenskampfes darstellt angesichts einer brachliegenden Landwirtschaft, der Rechtlosigkeit und einer grassierenden Arbeitslosigkeit. Glücklich kann sich hier schätzen, wer viele Töchter hat, die er zur Existenzsicherung der ganzen Sippschaft feilbieten kann. Wie Schaimas Vater, der sie als vierte Frau an einen 40 Jahre älteren Mann verkaufte, während Hossein der Armut in seiner Heimat entfloh, indem er sich von den Taliban als Söldner anheuern ließ. Da Schaimas Ehemann die Hälfte des Brautgeldes jedoch schuldig blieb, holte sie ihr Vater in die patriarchalische Enge der Familie zurück, wo sie mit ihrer fünfjährigen Tochter heute lebt. In einem von bitterster Armut und einem mittlerweile 30 Jahre andauernden Krieg gezeichneten Land stellt die Familie das einzige soziale Band dar. Persönliches Glück spielt in solcher Gemengelage keine Rolle. Für Hossein und Schaima bedeutet das, in Angst und Bedrängnis vor der drohenden Blutfehde beider Familien zu leben, die männliche Verwandte anzetteln und über Generationen anfeuern könnten. Vom Kameramann Lars Barthel eindringlich fotografiert, entblättert Helga Reidemeisters Dokumentarfilm die Liebesgeschichte in Nahperspektive: Viele Groß- und Nahaufnahmen erzeugen eine besondere Unmittelbarkeit, die den Zuschauer in eine fremde, karge und hoffnungslos erscheinende Welt versetzen und am Schicksal der Protagonisten teilhaben lassen. Eine Welt, in der junge Frauen an den Meistbietenden verschachert werden, beherrscht von Stammes- und Familienritualen, die in kompletter Opposition zur aufoktroyierten Demokratisierung stehen und mit dieser kaum in Einklang gebracht werden dürften, solange fehlende Arbeit und existenzielle Not ein Auskommen verhindern. Die beobachtende Kamera und der ruhige, den Menschen zugewandte Erzählrhythmus gewähren tiefe Einblicke in familiäre Strukturen und Denkweisen, die sich gegenläufig zum erwünschten gesellschaftlichen Umbruch ausnehmen und es zwischen dem Flüsterton der Frauen, der Außenseiterposition eines Kriegsversehrten und dem patriarchalischen Gehabe der Familienoberhäuter möglich machen, die Lage vor Ort besser zu verstehen. Alle Parteien, Männer wie Frauen, scheinen in einer unverrückbaren Ordnung gefangen zu sein, die von den äußeren Umständen zusätzlich zementiert wird. Jenseits der geläufigen Gemeinplätze über Afghanistan und den Krieg gegen die Taliban bezeugt der Film eine individuell ausweglose Realität und berührt damit spiegelbildlich gesellschaftliche Fragen, die verschiedene Ebenen von Wahrheit durchschimmern lassen. Unvoreingenommen, aber nicht unparteiisch gelingt es Reidemeister so, die klassischen Potenziale des Dokumentarischen zu aktivieren, was nicht zuletzt auch vom 16mm-Format unterstützt wird.
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