Ein bewegendes Porträt der während der Dreharbeiten 85-jährigen Übersetzerin Swetlana Geier (26.4.1923-7.11.2010). Der Dokumentarfilm stellt nicht nur eine außergewöhnliche Frau und ihr Schicksal vor dem Hintergrund zweier Diktaturen vor, sondern gewährt darüber hinaus Einblicke in ihre akribische Arbeit und macht einen weithin unterschätzten literarischen Schaffensprozess transparent. Eine sehr rücksichtsvolle Annäherung an einen Menschen, der mit seiner Übersetzungskunst Brücken zu schlagen versteht, wobei sich der Film seinem Sujet sensibel und mit inszenatorischer Bedächtigkeit annähert.
- Sehenswert ab 14.
Die Frau mit den 5 Elefanten
Dokumentarfilm | Schweiz/Deutschland 2009 | 97 Minuten
Regie: Vadim Jendreyko
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Filmdaten
- Originaltitel
- DIE FRAU MIT DEN 5 ELEFANTEN
- Produktionsland
- Schweiz/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2009
- Produktionsfirma
- Mira Film/Filmtank/ZDF/3sat/Schweizer Fernsehen
- Regie
- Vadim Jendreyko
- Buch
- Vadim Jendreyko
- Kamera
- Niels Bolbrinker · Stéphane Kuthy
- Musik
- Daniel Almada · Martin Iannaccone
- Schnitt
- Gisela Castronari-Jaensch
- Länge
- 97 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Diskussion
„Für Pausen bin ich zu alt“, sagt die 85-jährige Swetlana Geier. Schließlich sei sie dem Leben noch etwas schuldig. Folgerichtig fuhrwerkt sie in ihrer Freiburger Küche herum, bereitet Tee und lässt sich von ihrer Sekretärin nicht lange bitten, wenn es an die Arbeit geht. Die Arbeit ist die Übersetzung der fünf großen Romane von Fjodor Dostojewskij („Verbrechen und Strafe“, „Der Idot“, „Böse Geister“, „Die Brüder Karamasow“, „Ein grüner Junge“), mit der sie seit Beginn der 1990er-Jahre im Auftrag des Schweizer Verlegers Egon Ammann beschäftigt ist. In seinem leisen, zurückgenommenen Film, der auf seine Weise die Person seiner Protagonistin spiegelt und sich um möglichst große Nähe bemüht, zugleich jedoch immer die nötige Distanz wahrt, gelingt es dem deutsch-schweizerischen Regisseur Vadim Jendreyko auf beispielhafte Weise, sich mit filmischen Mitteln dem Wesen der Literatur anzunähern und den Schaffensprozess einer künstlerischen Übersetzung transparent zu machen. Egal ob mit ihrer Sekretärin oder ihrem verschroben-pedantischen (Vor-)Lektor, der um jedes Wort und Komma feilscht: Rasch wird deutlich, dass Übersetzung kein fest gefügter Akt ist, keine Transkription einzelner Worte von einer in eine andere Sprache, die es dann nur noch in die jeweilige Grammatik einzuordnen gilt, sondern eine Neu- und Umdichtung, ohne den Gehalt der Vorlage zu beschädigen. Dies zeigt sich beispielsweise darin, wenn die diktierende Geier, von der Sekretärin, die mit dem Notieren nicht nachkam, um die Wiederholung des letzten Satzes gebeten, diesen dann ein wenig anders formuliert als beim ersten Mal.
Voraussetzung für ihren Beruf, sagt die 1923 in Kiew geborene Dozentin, eine der gefragtesten deutschsprachigen Übersetzerinnen für russische Literatur, sei es, lesen zu können. Das hört sich banal an, verweist jedoch auf eine tiefere Bedeutung, denn Lesen meint hier nicht das mechanische Abrufen von Wissen, sondern einen kognitiven Vorgang, der umfassendere Vorstellungswelten erschließt und dabei immer das (literarische) Ganze im Auge hat. Swetlana Geier macht sich bereits zum zweiten Mal über ihre „fünf Elefanten“ her, tüftelt und verschiebt Nuancen. So heißt Dostojewskijs bislang als „Schuld und Sühne“ bekannter Roman in der Transformation des Originals in ihrer Übersetzung nun „Verbrechen und Strafe“, denn genau darum geht es; wer ihre erste Seite von „Der Idiot“ mit einer anderen Übersetzung vergleicht, wird zwar keinen anderen Inhalt, aber völlig unterschiedliche Sprachwelten finden.
Doch der in recht dunklen Brauntönen komponierte Film fordert nicht nur zu intellektueller Auseinandersetzung auf, sondern zeigt eine würdevolle, liebenswerte alte Dame, die zwar von schweren Schicksalsschlägen gebeugt (was durchaus wörtlich zu verstehen ist), aber nie gebrochen wurde. Bewegend ist die Kochszene im Kreise ihrer Enkel- und Urenkelschar, in der sich alle an der Zubereitung einer Mahlzeit beteiligen; erschütternd und rührend ihre Reaktion, als sie vom schweren Unfall ihres Sohnes erfährt, der zum Pflegefall geworden ist. Die Übersetzerin, die Ende der 1930er-Jahre als 15-Jährige ihren Vater pflegte, der ein stalinistisches Lager überlebte, interpretiert diesen Dienst als Generalprobe, dem nun die Aufführung folgt. Vielleicht ist dieser Unfall auch der Auslöser, um zum ersten Mal nach 1943 in die Ukraine zurückzukehren und zusammen mit einer Enkelin das Grab des Vaters und die Stätten ihrer Jugend zu besuchen; damit verbunden sind auch Erinnerung an das Massaker an Kiewer Juden, dem ihre beste Freundin zum Opfer fiel.
Am Ende des Films präsentiert Swetlana Geier sichtlich stolz ihre fünf gedruckten „Elefanten“, etwas, das ihr niemand mehr nehmen kann, anders als den Sohn, der inzwischen gestorben ist. Doch das Leben geht für die starke kleine Frau weiter, schließlich ist das pure Dasein nach ihrer Ansicht nicht das alleinige Ziel des Menschen, sondern die Vorstellung, einen imaginären Punkt zu erreichen, an dem sich eine essenzielle Idee offenbart. „Die Frau mit den 5 Elefanten“ ist ein intellektuell ebenso erhellender wie befriedigender und emotional sehr ergreifender Dokumentarfilm, der eine Ausnahmepersönlichkeit porträtiert und zugleich vom Geschick seines Regisseurs zeugt. Übrigens sollte man keinesfalls den Nachspann verpassen, in dem sich zwischen der Übersetzerin und ihrem Hauslektor ein wahnwitziger Disput über (literarische) Pferde entspinnt: wie viele es überhaupt gibt und wie sie eingesetzt werden. Übersetzen heißt eben nicht, Wörter in eine andere Sprache zu verschieben, sondern Intentionen zu erfassen.
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