Wo kommen eigentlich die Babys her? Das ist nur eine der existenziellen Fragen, auf die die achtjährige Mary Daisy Dinkle keine befriedigende Antwort erhält. Daheim in einem der trostlosen Vororte Melbournes stopft ihr Vater Noel Norman, wenn er nicht gerade in der Teebeutelfabrik arbeitet, tote Tiere vom Straßenrand aus. Und ihre Mutter Vera Lorraine Dinkle ist derart ausgiebig mit ihrem Lieblingssherry beschäftigt, dass sie das Sofa nur zum (Sherry-)Einkaufen verlässt. Mary hat keine Freunde außer ihrem Hahn Ethel und den Nublets, jenen putzigen Comic-Helden, deren Sendung im Fernsehen sie niemals verpasst. Niemand verrät ihr also, woher die Babys kommen und warum ihre Mutter immer lallt, Mary sei ein „Unfall“ gewesen. Stimmt vielleicht die These ihres jüngst verstorbenen Opas, dass Eltern ihre Babys auf dem Grund von Biergläsern finden? Irgendwie ahnte Mary, dass dies nur die halbe Wahrheit ist, und an einem der vielen trostlosen Nachmittage, die sie einsam verbringt, fasst sie den Entschluss, endlich jemandem ihre Fragen zu stellen – und zwar einem Unbekannten mit einem seltsam klingenden Namen im fernen Amerika. Auf einer herausgerissenen Telefonbuchseite hat sie die Adresse von Max Jerry Horowitz, Hubert Street, New York entdeckt. An ihn richtet sie den Brief, den sie noch in der selben Nacht schreibt. Dies ist der Beginn einer 22 Jahre währenden, außerordentlichen Brieffreundschaft.
Ein wenig verschroben scheinen alle zu sein, die sich innerhalb der großen Animationsfamilie Lehm, Knete oder Plastilin als Werkstoff ausgesucht haben, um das wahre Leben möglichst wenig naturalistisch wiederzugeben. Von den Monstern eines Ray Harryhausen bis hin zu den berühmten Knollennasen Wallace & Gromit oder dem Lebenskünstler Shaun, das Schaf aus dem verzweigten Aardman-Imperium: Hinter all diesen putzigen oder grotesken Figuren versteckt sich die Fratze der Anarchie, wenn sie im Film durch das Wunder der Stop Motion von leblosen Statuetten zu höchst agilen Geschöpfen mutieren. Die Kopfgeburten des Australiers Adam Elliot bilden da keine Ausnahme. So putzig und unschuldig Mary und ihre Leidensgenossen als Standbild auch wirken mögen, so tragisch ist ihr Schicksal, wenn sie erst einmal zum Leben erweckt sind. Der 44-jährige Max etwa, den sich die kleine Mary in ihrer Not als Ansprechpartner auserkoren hat, ist ein für sein Gewicht trotz stolzer 1,80 Meter deutlich zu klein geratener schrulliger Zeitgenosse, der zu seinem Trainingsanzug allerhöchstens einmal eine Kippa trägt – und das auch nur, weil man sagt, sie würde das Hirn warm halten. Max ist jüdischer Herkunft, aber Atheist. Das passt ganz gut zusammen in einer Welt, in der nichts Sinn macht. „Babys schlüpfen aus Eiern, die Rabbiner ausbrüten. Wenn du nicht jüdisch bist, werden sie von katholischen Nonnen gelegt. Wenn du Atheist bist werden sie von einsamen, verwahrlosten Prostituierten gelegt.“ Die Antworten, die der notorische Einzelgänger für die kleine Mary in die alte Schreibmaschine tippt, werden zeit seines Lebens der einzig fruchtbare Kontakt zur Außenwelt bleiben, da sich Max ansonsten höchstens zum Lottospiel oder bei vom Arzt verordneten Weightwatchers-Besuchen traut, mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten. Und in den unerquicklichen Sitzungen mit seinem Psychiater Doctor Bernard Hector Hazelhoff, den Max sich gönnt, weil er nun mal New Yorker ist. Max leidet am Asperger-Syndrom, besser gesagt: Er hat sich damit arrangiert. Aber diese besondere Art von Autismus ist beileibe nicht daran schuld, dass Max so ist, wie er ist. Max ist einfach nur ein ganz besonderer Charakter. Das meint auch Max’ unsichtbarer Freund Mister Alfonso Ravioli, der nicht einmal in der Selbsthilfeliteratur, die er verschlungen hat, ein ähnliches Exemplar wie Max getroffen hat.
Man darf „Mary & Max“ jedoch nicht missverstehen. Die wahre Begebenheit, auf der das Drehbuch fußt, ist allenfalls von einem Brieffreund inspiriert, mit dem Elliot über Jahre konferierte. Die seitenlangen inneren Monologe von Max und Mary sind allesamt dem verschrobenen, aber zutiefst menschenfreundlichen Gehirn des Autors Elliot entsprungen. Sie sind so trist und niederschmetternd, dass sie, wären sie als Realfilm gedreht worden, wohl niemand ertragen könnte. Doch der Animator Elliot findet für seine verbale Tragik derart köstlich-schwarzhumorige Knetentsprechungen, dass aus der wundersamen Verbindung beider Teile ein zutiefst berührender, fast schon lustiger Film entstand. Wort und Bild könnten dabei nicht diametraler sein und ergeben dennoch eine zutiefst harmonische Einheit. Entscheidend ist dabei, dass das Wort auf gleich hohem Niveau wie das Bild präsentiert wird. In der englischen Fassung ist das mit den Stimmen von Bethany Whitmore und Philip Seymour Hoffman sowie dem immens wichtigen Erzähler aus dem Off (Barry Humphries) genial gelungen. Auch die deutsche Fassung hält dank Boris Aljinovic (Erzähler) Helmut Kraus (Max) und Valentina Bonalana (Mary) das vorgegebene Niveau. So lacht und weint man mit Mary und Max und hofft auf eine schöne Wendung – wohl ahnend, dass „Mary & Max“ alles ist, nur kein Märchen!