Ein Kind zu töten...

Horror | Spanien 1976 | 107 Minuten

Regie: Narciso Ibáñez Serrador

Ein junger Engländer und seine schwangere Ehefrau erleben in einem verschlafenen Fischerdorf auf einer Insel vor der spanischen Küste statt friedlicher Ferien einen grauenhaften Albtraum: Die erwachsenen Inselbewohner werden ermordet, die Täter sind ihre Kinder. Kühl und zurückhaltend inszenierter Horrorfilm, der erstmals in der vom Regisseur beabsichtigten Fassung vorliegt. Konsequent vermeidet er es, die Motivation der Kinder offen auszusprechen, und überzeugt als grimmige Dystopie darüber, was passieren könnte, wenn sich die Schwachen in der Gesellschaft zu wehren beginnen. (Der Film wurde bereits unter den Titeln "Scream" und "Tödliche Befehle aus dem All" im Kino und auf Video veröffentlicht, dabei aber vom deutschen Verleih durch die Kürzung des siebenminütigen Prologs verfälscht. Ein neues Insert reicherte ihn zudem um Science-Fiction-Elemente an, die der eigentlichen Intention des Regisseurs widerstreben.)
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Filmdaten

Originaltitel
QUIÉN PUEDE MATAR A UN NIÑO?
Produktionsland
Spanien
Produktionsjahr
1976
Produktionsfirma
Penta Films
Regie
Narciso Ibáñez Serrador
Buch
Narciso Ibáñez Serrador
Kamera
José Luis Alcaine
Musik
Waldo de los Ríos
Schnitt
Antonio Ramírez de Loaysa · Juan Serra
Darsteller
Lewis Fiander (Tom) · Prunella Ransome (Evelyn) · Antonio Iranzo (Vater) · Luis Ciges (Enrique Amorós) · Maria Druille (weinende Tochter)
Länge
107 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 18
Genre
Horror
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Heimkino

Die Extras der Erstauflage umfassen u.a. ein kurze aber substanzielle Interviews mit dem Regisseur (9 Min.) und dem Kameramann (16 Min.) den kompletten Soundtrack auf separater CD (44 Min.) sowie ein mustergültig informierendes Booklet. Die schön aufgemachte, filmhistorisch interessante DVD ist mit dem "Silberling" 2009 ausgezeichnet. Erhältlich auch in einer Standard Edition (Neuauflage) ohne bemerkenswerte Extras.

Verleih DVD
Bildstörung (16:9, 1.85:1, Mono span./dt.)
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Die Sonne scheint von einem blauen Himmel. Trotz Hochsaison und Volksfeststimmung wirkt die Küste Spaniens als idealer Ort der Erholung. Doch Tom und seine schwangere Frau Evelyn suchen exotischere Ruhe. Das winzige Eiland Almanzora ist auf keiner Karte verzeichnet, was die nur wenige Stunden von der Küste entfernte Oase vor allzu vielen Touristen bewahrt. Für das gestresste englische Ehepaar ist es das Traumziel. Am Hafen spielen ein paar Kinder, die kaum Interesse an den beiden Fremden zeigen. Allerdings wirkt der Ort seltsam ausgestorben, fast menschenleer. Der Eindruck eines verschlafenen Fischerdörfchens kippt ganz langsam. Das Paar beschleicht ein diffuses, apokalyptisches Gefühl – das sich mit den ersten Leichen und dem ersten Mord an einem alten Mann in lähmendes Entsetzen wandelt. Denn die Opfer sind die erwachsenen Inselbewohner – und die Täter ihre Kinder. Diese Exposition nahm der deutsche Verleih bei der Kinoauswertung 1977 zum Anlass, um aus „¿Quién puede matar a un niño?“ den Titel „Tödliche Befehle aus dem All“ oder schlicht „Scream“ (fd 20 120) zu machen. Doch es wurde nicht nur der Originaltitel (etwa „Wer kann ein Kind töten?“ bedeutet), sondern auch der Inhalt verändert. Man konstruierte eine krude Science-Fiction-Geschichte, in der die Kinder von Außerirdischen zu ihren Mordtaten angestiftet werden. Zu diesem Zweck kürzte man einen gut siebenminütigen Prolog ersatzlos, der für das Verständnis des Films bedeutsam ist, und oktruierte ihm durch ein Insert eine neue Bedeutung: „Dieser Film spielt um 2000. Es ist eine Vision, die Wirklichkeit werden könnte, wenn... Tödliche Befehle aus dem All.“ Mit der Wiederveröffentlichung des Films auf Video wurde diese Version 1984 als jugendgefährend indiziert und verschwand damit weitgehend aus dem Blickfeld der deutschen (Film-)Öffentlichkeit. Nun ist der Film vom Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften gestrichen worden. Für das Independent-Label Bildstörung Anlass genug, sich dem Film oder dem, was in Deutschland davon noch übrig geblieben ist, erneut zu widmen. Unter dem Titel „Ein Kind zu töten…“ kommt er erstmals in der vom Regisseur intendierten Fassung auf den Markt und entpuppt sich als eindrückliches Genrewerk. Am Anfang stehen Originalaufnahmen aus Kriegen des 20. Jahrhunderts. Ein Off-Kommentator berichtet über die Gräueltaten, die Opfer und das unermessliche Leid – vor allem an den Kindern. Der Übergang von den Schwarz-Weiß-Aufnahmen hin zu den spielenden Kindern am spanischen Strand wird nicht kommentiert. Doch wenn Tom und seine Frau Evelyn die Szenerie betreten, wenn seltsame, nur beiläufig erscheinende Todesfälle im Vorfeld die Urlaubsfreuden nicht weiter tangieren oder der Hotelier über die chronische Kriegslüsternheit der Menschen philosophiert, evoziert dies eine Stimmung von Paranoia. Irgendetwas Schlimmes liegt in der Luft. Wie man später erfährt, sind es die Kinder von Almanzora, die als erste ihre „Konsequenzen“ gezogen haben. „Ein Kind zu töten…“ vermeidet es konsequent, die Motivation der Kinder offen auszusprechen. Der Zuschauer bleibt wie die Protagonisten des Films im Unklaren und wird hilflos und geschockt vor vollendete Tatsachen gestellt. Narciso Ibáñez Serrador und sein Kameramann José Luis Alcaine (der in den 1980er-Jahren vor allem mit Pedro Almodóvar zusammenarbeitete) sind Meister des Understatements. Nur vage Andeutungen lassen auf ungeheure Bluttaten schließen, während über der unheilvollen, sonnenüberfluteten Szenerie das (scheinbar unschuldige) Kichern der Kinder liegt. „Ein Kind zu töten…“ schließt an Filme wie Peter Brooks’ „Herr der Fliegen“ (fd 24 081), Hitchcocks „Die Vögel“ (fd 11 963) und Romeros „Nacht der lebenden Toten“ (fd 17 343) an. Formal meisterhaft wagt sich der Film an eine kühne Horrorvision, die umso erschreckender ist, weil sie unkommentiert bleibt. Gleichzeitig verweigert sich der Film der Spekulation, er würde auf Kosten der Kinder unterhalten oder gar Gewalt gegen Kinder entschuldigen (wie seinerzeit im Indizierungsbeschluss angemerkt wurde). „Ein Kind zu töten…“ ist eine grimmige Dystopie, die Antwort darauf, was passieren würde, wenn sich die Schwachen zu wehren begännen. Ein ausgezeichneter Booklet-Text von Michael Schleeh, der sich detailliert auch mit dem Indizierungsbeschluss auseinander setzt, zeichnet im großen Bogen das filmgeschichtliche Motiv des gewalttätigen Kindes nach.
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