Man hört ein ruhiges Atmen, das einer schlafenden Person; man erkennt Haut, Haare, Teile eines friedlich ruhenden Körpers. Eine Ahnung von Harmonie liegt über dieser sehr sinnlich komponierten Eingangsmontage, in der sich der Frauenkörper allmählich mit einem anderen, einem männlichen Körper überlappt. Dann erwacht die junge Frau, Lilli, aus dem Schlaf, beobachtet durchs Fenster ihren Bruder, Alex, der im Garten selbstversunken im ersten fallenden Schnee tanzt. Es sind dies lediglich Erinnerungsbilder. Wenn die Handlung einsetzt, ist der 19-jährige Alex bereits seit einem Jahr tot. Die Mutter wird von einem tragischen Jagdunfall reden, Lilli später von einem ihr unerklärlichen Selbstmord. Durch Alex’ Tod ist das Familienideal zerbrochen; eine von großem Wohlstand und viel „Stilsicherheit“ geprägte Daseinsidylle, um deren Bestand alle Beteiligten seitdem verzweifelt ringen: Mutter Eliane, erfolgreiche Innenarchitektin, Vater Thomas, renommierter Bioniker, und die 21-jährige Tochter Lilli, die Gesang und Tanz studiert – sie leben mehr neben- als miteinander, wie unter eine Glasglocke, sind Teile des schicken Interieurs, quasi selbst Design, das nicht lebt, weil es keine Gefühle zulässt, keine Trauer, keine Verzweiflung – und damit keine Akzeptanz, kein Bewältigen des Verlusts.
In dieser von Stillstand und Ausweglosigkeit gezeichneten Situation beauftragt Mutter Eliane den berühmten Maler Max Hollander mit einem Porträt: Max soll Lilli und Alex „einfangen“, quasi zurückholen, Alex nach fotografischen Vorlagen, Lilli auf Grund von persönlichen Besuchen im Atelier des Malers, wo er, getrennt von Frau und Sohn, lebt und arbeitet. Lilli wehrt sich gegen das Gemälde, das sich die Mutter nur als Dekoration an die Wand hängen wolle; rebellieren freilich tut sie nicht, dafür ist sie zu sehr Tochter unter elterlichem Einfluss. Doch die Begegnungen mit dem weit älteren Max setzen etwas in Gang. Lillis Dasein bekommt Risse. Ihre Tanztheater-Hauptrolle in einer Adaption von „Alice im Wunderland“ lässt sie sausen, eine Liebesbeziehung zum jungen Künstler Aldo zerbricht an zu vielen Missverständnissen und Unaufrichtigkeiten. Wer ihr in ihren Krisen und Zweifeln bleibt, ist Max: als väterlicher Freund, als stiller Berater und Tröster, wobei auch Max Trost braucht, den er in seiner Zuwendung für Lilli ein Stück weit findet.
Hinter der gepflegten Lebensfassade einer Familie enthüllen sich Spannungen und Krisen zwischen einem Ehepaar sowie zwischen dem Paar und ihrer Tochter, ausgelöst durch den Unfalltod des Sohnes. Das ist, grob gerafft, der Faden des Films – und war auch das Thema von Robert Redfords Regie-Debüt „Eine ganz normale Familie“
(fd 22 861). Wie Redford entfaltet auch Caroline Link kein psychologisierendes, sondern ein mittels subtiler Beschreibungen sowie aufmerksamer visueller und musikalischer Verdichtungen aufdeckendes Drama, das zugleich von der ungeheuren Präsenz der Schauspieler getragen wird. Würde man die Handlung losgelöst von den vielen bildkompositorischen und darstellerischen Finessen betrachten, müsste man wohl kritisch die trivialen Fallstricke des Plots benennen, die oft das Melodramatische, ja Kitschige streifen – dies freilich ohne jegliche Berührungsängste, vielmehr mit sicht- und spürbarem (Selbst-)Bewusstsein; Caroline Link bemüht sich um einen durchaus „populären“ Kinofilm, ohne dabei Massenware zu bieten, vielmehr intelligentes, kompositorisch reiches Gefühlskino. Die Krisensituation der Protagonisten leuchtet dabei als der tief emotionale Widerschein einer metaphysischen Verlorenheit auf, wobei sich das Motiv von der heilsamen Kraft der Kunst vielfältig Bahn bricht und gleich mehrere Reife- und Selbstfindungsprozesse einleitet. Wie in „Jenseits der Stille“
(fd 32 278) erzählt Caroline Link von Hindernissen, die Menschen, die einander lieben, trennen; dabei sind die Bilder hier weitaus eindrucksvoller, ja sogar ausgefeilt spektakulär, etwa wenn sie die Schönheit (oder auch die „Normalität“) eines Gesichts, eines Körpers, einer Stimmung regelrecht „feiern“ und bereits früh Perspektiven andeuten, zu denen die Figuren erst am Ende fähig sind. In „Jenseits der Stille“ gab es eine schöne Szene, in der ein kleiner Junge, der fasziniert die „sprechenden Hände“ eines taubstummen Mannes beobachtet, spontan auf diesen zugeht und seine kleine Hand in dessen legt. Dieses liebevolle, zärtliche Sinnbild scheint auch hier auf, wenn Maler Max darauf wartet, was ihm seine Hände sagen werden: über die Dinge, wie sie wirklich sind.