„Hoffentlich bist du schon eine halbe Stunde im Himmel, bevor der Teufel merkt, dass du tot bist.“ Dieser irische Trinkspruch steht als Motto am Anfang des neuesten Films von Sidney Lumet, dem mittlerweile 83-jährigen Meister anspruchsvoller Spannungsunterhaltung. Dieser schuf u.a. mit „Die zwölf Geschworenen“ (fd 6 139), „Hundstage“
(fd 19 702), Prince of the City“
(fd 24 068) und „The Verdict“
(fd 23 947) Meilensteine der (Genre-)Filmgeschichte, die alle mehr oder weniger um die Themenkomplexe Schuld und (unschuldig) Schuldigwerden kreisen. So auch sein neuer Film. Schon jetzt sei vorausgeschickt: Der fromme Wunsch des Mottos wird für keinen der Beteiligten des rabenschwarzen Films in Erfüllung gehen. Lange bevor sie überhaupt ans Sterben denken, schmoren sie längst in ihrer eigenen Hölle.
Am Anfang steht ein einfacher Plan: Andy Hanson, dem es als Wirtschaftsprüfer mit hohem Einkommen eigentlich gut gehen sollte, lebt auf zu großem Fuß. Bislang hat er seinen aufwändigen Lebensstil und den Koks-Konsum durch Unterschlagungen finanzieren können, doch jetzt steht dem Unternehmen selbst eine Wirtschaftsprüfung bevor. Andy hat vier Tage Zeit, seine negative Geschäftsbilanz auszugleichen, und hat die „geniale“ Idee, das Juweliergeschäft der Eltern, die nicht mehr selbst arbeiten, auszurauben. Einige hunderttausend Dollar würde der Coup bringen; die Versicherung wird die Eltern entschädigen, die betagte Verkäuferin im Vorstadt-Geschäft wird gewiss keine Probleme machen. Den Überfall soll der kleine Bruder Hank durchführen, der lebenslange Versager, der zögerlich einwilligt, da auch seine Geldsorgen unüberwindlich erscheinen. Hank braucht zwar Geld, sieht sich jedoch nicht in der Rolle des skrupellosen Gangsters und heuert den Kleinkriminellen Bobby an, der an seiner Stelle den Überfall durchführen soll. Und hiermit beginnt eine Verkettung tragischer Irrtümer und Entscheidungen, die geradewegs in die Hölle führen: Bobby trifft nicht auf die Angestellte, sondern auf Mutter Hanson, mit der er sich ein Feuergefecht liefert. Bobby stirbt am Tatort, Mutter Nanette, fällt in Folge ihrer Schussverletzung ins Koma. Zwei mehr oder weniger verzweifelte Söhne und der in seinen Grundfesten erschütterte Vater Charles bleiben zurück. Letzterer muss bald entscheiden, ob die Geräte, die seine Frau am Leben halten, abgeschaltet werden. Nach diesem entscheidenden Schritt fasst Charles den fatalen Entschluss, die Überführung des Täters und die Rache in die eigenen Hände zu nehmen. Das Glück – eigentlich müsste man in diesem Fall sagen: das Pech – steht auf seiner Seite. Der ehemalige Diamantenschleifer sucht einen Juwelenhändler auf, der auch als Hehler einen gewissen Ruf hat. Dort stößt er auf die heiße Spur, die direkt zu Andy führt, der seinerseits alle Hände voll zu tun hat, um die Spuren des missglückten Überfalls zu beseitigen.
„Tödliche Entscheidung“ ist ein Meisterwerk, dessen drei hervorragende Protagonisten dank des überwältigenden Drehbuch-Debüts von Kelly Masterson mit diabolischer Präzision ins Verderben schlittern, weil sie an jedem Wendepunkt des Films die denkbar falscheste Entscheidung treffen und sich ihre eigenen Gräber schaufeln. Dabei funktioniert Lumets Film gar nicht so sehr auf der reinen Genre-Ebene, sondern erinnert an eine arktische Tiefenbohrung, die in einen Kern längst überwunden geglaubter (Familien-)Geschichten vordringt. Dabei spielt ein zerrüttetes Vater-Sohn-Verhältnis ebenso eine Rolle wie eine lebenslange Hassliebe zwischen den Brüdern und der Wunsch, im Familienverband wenn schon nicht geliebt, so doch akzeptiert zu werden. Der Regisseur bedient sich dabei einmal mehr einer a-chronologischen Inszenierung, die die Ereignisse der vier entscheidenden Tage als zeitliches Patchwork darstellt und Parallelitäten und Gleichzeitigkeiten signalisiert, um Zustände zu beschreiben, die sich zwar im Hier und Jetzt abspielen, die ihre gemeinsamen Wurzeln jedoch in der Vergangenheit haben. Lumet, der trotz seiner großen Verdienste nie mit einem regulären „Oscar“ ausgezeichnet wurde, sondern 2005 einen „Ehren-Oscar“ für sein Lebenswerk erhielt, scheint sichtlich Spaß an der Inszenierung dieses Films gehabt zu haben. Nicht Modernismen und Effekte bestimmen diesen, sondern eine gewisse Bodenständigkeit und Abgeklärtheit, die die Ruhe schafft, um die Psychologie der Hauptcharaktere auszuloten. Der Look erinnert an die Filme des New Hollywood der frühen 1970er-Jahre. Darüber hinaus scheint es, als wolle Lumet, dem das Etikett des „New-York-Regisseurs“ anhaftet, seine Kritiker bestätigen und gleichzeitig Lügen strafen: „Tödliche Entscheidung“ spielt natürlich in New York, aber in einem so abgelegenen Vorort, dass das Zentrum der Tragödie, zu der sich die anfängliche Farce in atemberaubendem Tempo verdichtet, überall in der amerikanischen Provinz liegen könnte. Lumets Film ist ein Glücksfall für ein Genrekino, das nicht nur Oberfläche, sondern auch psychologischen Tiefgang bieten will: Er zeigt verzweifelte Menschen, die immer größere Schuld auf sich laden und längst schon innerlich zerbrochen sind, während sie fieberhaft nach Auswegen aus der Krise suchen. Ein fabelhafter, rabenschwarzer Thriller, der dank seiner prominenten Besetzung auch Chancen an der Kinokasse haben sollte.