Szenische "Rekonkretisierung" zweier öffentlicher Vorträge des "Hasspredigers" Mohammed Fazazi, bei dem Regisseur Romuald Karmakar und Schauspieler Manfred Zapataka das in "Das Himmler-Projekt" (2000) entwickelte Verfahren erneut erfolgreich anwenden, um die Strukturen eines kaltherzigen, vormodernen Denkens sichtbar zu machen. Fazazis fundamentalistische Auslegung des Islam gilt als Freibrief für die Selbstmordattentäter des 11. September. Das experimentelle Dokumentarspiel vermittelt indirekt Einblick in das islamistische Milieu westlicher Großstädte, in dem radikale muslimische Prediger Fuß fassen können. (Teils O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 16.
Hamburger Lektionen
Dokumentarfilm | Deutschland 2006 | 139 Minuten
Regie: Romuald Karmakar
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2006
- Produktionsfirma
- Pantera Film
- Regie
- Romuald Karmakar
- Buch
- Romuald Karmakar
- Kamera
- Casey Campell · Frank Müller · Fred Schuler
- Schnitt
- Romuald Karmakar · Uwe Klimmeck · Karin Nowarra
- Darsteller
- Manfred Zapatka
- Länge
- 139 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Pädagogische Absichten kann man Romuald Karmakar kaum unterstellen, obwohl sein beständig wachsendes Werk für die politische Öffentlichkeit wichtige Vermittlungen leistet. Seit „Coup de boule“ (1987) arbeitet er sich an extremen Themen und Menschen ab, deren Motive für gewöhnlich außerhalb der medialen Wahrnehmung liegen: Söldner, Mörder, Sextouristen, Popliteraten oder Nazi-Größen. Mit der ihm eigenen Unerbittlichkeit beleuchtet er auch in seiner jüngsten Arbeit „Hamburger Lektionen“ ein Milieu, das das Schlagwort „Hassprediger“ mehr verstellt als erläutert. Gemeint ist jene Variante des islamischen Fundamentalismus, die unter muslimischen Migranten in westlichen Großstädten gedeiht und ihre Militanz mit dem Al-Qaida-Terror in New York, Madrid oder London unter Beweis stellte. Als eine Art geistiger Wegbegleiter dieser Anschläge gilt der marokkanische Prediger Mohammed Fazazi, der bis zum Oktober 2001 der Al-Quds-Moschee in Hamburg vorstand, in der Mohammed Atta und andere Attentäter des 11. September regelmäßig verkehrten. Dort waren ein Jahr zuvor zwei Vorträge Fazazis über Aspekte der religiösen Lebensführung auf Video mitgeschnitten worden, die man im Buchladen der Moschee auch erwerben konnte. Diese Aufnahmen bilden die Grundlage von Karmakars szenischer „Rekonkretisierung“, in der erneut Manfred Zapatka als Rezitator vor einem neutralen Studiohintergrund auftritt und den Text, aber auch Fragen und Kommentare des Publikums wiedergibt.
Wie in „Das Himmler-Projekt“ (fd 35036) legt sich die Inszenierung eine extreme Zurückhaltung auf, um mit fast wissenschaftlicher Akribie den intelligiblen Inhalt der „Lektionen von Scheich Fazazi II“ zu transponieren: zwei Kameras, eine Handvoll Einstellungen in neutraler Ausleuchtung, Untertitel, mit denen die Reaktionen der Zuhörer eingeblendet werden, Inserts als Vor- und Abspann, die über den Kontext und die Zeit nach den „Lektionen“ informieren. Auch ging den Dreharbeiten eine penible textkritische Arbeit voraus, in der nicht weniger als acht Autoren das größtenteils in Arabisch gehaltene Geschehen ins Deutsche übertrugen, wobei zentrale religiöse Termini im Original beibehalten und zusätzlich erläutert wurden; Zapatka gelingt es bravourös, die Fußnoten der Übersetzer zu integrieren, wie es seiner „Performance“ überhaupt zuzuschreiben ist, dass man dem 133-minütigen, sich häufig in juristischen Distinktionen ergehenden Monolog ebenso konzentriert wie gebannt folgen kann. Der einzige formale Unterschied zum „Himmler-Projekt“ besteht in der historischen Situierung der Rede durch zwei Außenaufnahmen, die das Bürogebäude im Steindamm 103 zeigen, in der die Moschee untergebracht ist.
Inhaltlich handelte es sich bei den „Lektionen“ weniger um Vorträge als vielmehr um Fragestunden, in denen Fazazi zuvor eingereichte Zettel beantwortet: Ist alles im Leben von Gott vorherbestimmt? Darf man einer Ungläubigen die Hand reichen? Ist es erlaubt, mit Christen über die Bibel zu diskutieren? Die Antworten sind einfach und klar: ja/nein, erlaubt/nicht erlaubt, wobei der Prediger nie eine ausführliche Begründung schuldig bleibt, woraus sich auf Dauer eine Art Crashkurs in Sachen salafitischem Islam entwickelt, eine extrem orthodoxe Variante, die an den letzten Jahren der Herrschaft Mohammeds in Mekka Maß nimmt und alle Reformen kategorisch ablehnt. Auffällig ist dabei der streng rechtliche Charakter der Ausführungen, in denen es bis auf wenige fromme Formeln primär darum geht, alltägliche Vorgänge unter abstrakte Begriffe zu subsumieren, die mitunter solange hin- und hergewendet werden, bis aus „Diebstahl“ (verboten) beispielsweise die (Kriegs-)„Beute“ (erlaubt) geworden ist. Am bemerkenswertesten ist allerdings Fazazis Verknüfung einer Ausbeutungs- und Verelendungstheorie („Wie machen die Arbeit, die die Deutschen nicht tun wollen, waschen Teller, putzen Toiletten, wir arbeiten für sie wie Sklaven“) mit dem Absolutheitsanspruch einer im 7. Jahrhundert entwickelten politischen Theologie, wonach der Islam „sich ausnahmslos in alle Bereiche des Lebens einmischt“. Unter Rückgriff auf Koran und Sunna (die Bräuche und Gepflogenheiten Mohammeds) ist Fazazi dann auch schon beim allumfassenden Dschihad, in dem jeder rechtschaffende Muslim die Pflicht habe, „die Herrschaft der Ungläubigen zu beseitigen, ihre Kinder zu töten, ihre Frauen zu erbeuten und ihre Häuser zu zerstören“. Klarer lässt sich ein Freibrief für Selbstmordattentäter kaum formulieren. Von Hass ist hier allerdings nicht die winzigste Spur zu finden; stattdessen dominiert die kaltherzige Logik eines fundamentalistischen Denkens, bei dem nur an den Rändern die Spuren verletzter Ehre oder Minderwertigkeitskomplexe aufscheinen. Karmakars puristische Methode, unter Ausblendung aller Details den Blick auf die Strukturen dieses Denkens zu lenken, funktioniert hier aufs Neue, auch wenn diese Spielart des Islam wesentlich fremder erscheint und vielleicht auch schwerer zugänglich ist als Himmlers Posener Rede. Auch deshalb, so das Fazit der „Hamburger Lektionen“, scheint eine intensivere öffentliche Beschäftigung mit dem Islam bitter nötig.
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