Die Geschichte eines antriebsschwachen Mannes Mitte 30 in einer sächsischen Kleinstadt, der als Stahlarbeiter in den Resten eines ehemaligen Kombinats arbeitet, verdichtet sich zu einer eindrucksvollen Studie des Stillstands, bei dem der Alltag ohne utopische Ziele verrinnt. Ein halbdokumentarisch anmutender Spielfilm, dessen Hauptfigur, obwohl auf der Verliererstrecke, durchaus sympathische Züge trägt. Durch seine strengen ästhetischen Mittel wirkt der Film formal wie der Schulterschluss zwischen der aktuellen Berliner Schule und den Berliner Arbeiterfilmen der frühen 1970er-Jahre.
- Sehenswert ab 14.
Karger
Drama | Deutschland 2007 | 88 Minuten
Regie: Elke Hauck
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2007
- Produktionsfirma
- Ö-Filmprod.
- Regie
- Elke Hauck
- Buch
- Elke Hauck
- Kamera
- Patrick Orth
- Musik
- Freygang
- Schnitt
- Barbara Gebler · Stefan Stabenow
- Darsteller
- Jens Klemig (Karger) · Marion Kuhnt (Sabine) · Anja Dietrich (Ulrike) · Nele Boberach (Clara) · Jana Steinig (Jana)
- Länge
- 88 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Karger, Jeans-Typ mit Ohrring, tätowiert, Mitte bis Ende 30, sieht ein wenig aus wie der ältere Bruder von Jan Ullrich und ist (auch) kein Freund vieler Worte und klarer Entscheidungen. Der real existierende Sozialismus ging als Gegner, als Sozialisationsinstanz schon vor Jahren flöten; jetzt wird auch noch die Ehe mit seiner Jugendfreundin Sabine geschieden. So richtig versteht Karger nicht mehr, was um ihn herum so geschieht. Die gemeinsame Tochter Clara zieht zur Mutter, was Karger aber nicht davon abhält, das Kind spontan aus der Kinderkrippe abzuholen, einen Nachmittag mit ihm zu verbringen, ohne die Mutter einzuweihen. Er reagiert auf Kritik stets etwas bockig und maulfaul, sieht Verschiedenes nicht ein. Karger arbeitet als Stahlarbeiter in den Resten eines ehemaligen Kombinats, für das sich ein französischer Investor interessiert.
Elke Hauck hat mit Laiendarstellern vor Ort im winterlichen sächsischen Riesa gedreht, wodurch ihr Film eine ungewöhnliche, fast schon dokumentarische Dichte bekommen hat. Zu Beginn sieht man Karger auf einem Rock-Konzert der Band „Freygang“, deren Sänger mit der rotzigen Emphase eines Rio Reiser um seine „Errettung“ von dieser Stadt bittet, vom Ausbruch ans Meer träumt und dabei ein von David Bowie entliehenes, kurzfristiges „Heldentum für einen Tag“ skizziert. Im Publikum sind lauter Kargers, Menschen um die 40, bekleidet mit den ledernen Insignien des Rock’n’Roll, unterhalten von einer Band, deren Mitglieder nur geringfügig älter als ihre Zuhörer aussehen. Eine „lost generation“? Rebellion ist längst in Melancholie umgeschlagen. Junge Menschen zwischen 20 und 35 sind in „Karger“ eher selten zu sehen, vom Protagonisten erfährt man, dass er Riesa noch nie verlassen hat. Karger, der zwar einen Führerschein, aber kein Auto besitzt, wird leitmotivisch immer wieder gefragt, ob er mitgenommen werden wolle. Er ist ein aufreizend passiver Held, der allerdings spontan auf die Chancen des Augenblicks zu reagieren weiß. Am Nachmittag nach der Scheidung kommt er noch einmal mit Sabine zusammen, unmittelbar nachdem er trotzig von ihr „seinen“ Ring zurückgefordert hat. Auch sonst scheint Alltag ohne klare Schnitte zu verlaufen, die Welt in Riesa überschaubar stillzustehen: Immer wieder und in unterschiedlichen Kontexten (Arbeit, Konzert, Kneipe, Diskothek, Krankenhaus, Familie, Klassentreffen) begegnen sich dieselben Personen, was der Film geschickt zur komplexen Figurencharakteristik nutzt. Dass seine soziologischen „Einsichten“ durchaus verallgemeinerbar sind, zeigen Szenen wie das Familientreffen nach der Verabschiedung von Kargers Vater aus dem Betrieb und ein Klassentreffen. Geradezu schmerzhaft ist der Abgleich der alten Schulfotos aus den 1980er-Jahren und den biografischen Verwerfungen der 1990er- und 2000er-Jahre: Man hat sich mit wechselndem Erfolg im Westen ausprobiert, ist mittlerweile einmal oder auch mehrfach geschieden, neu liiert und „glücklich“ oder arbeitsloser „Lebenskünstler“ – es ist in erster Linie eine Generation von Männern mit einer auf Dauer gestellten Post-Adoleszenz, die sich unpolitisch und ohne Utopie durchzuwursteln versucht, wobei die verunsicherte „Suchbewegung“ auf das kleine Glück im Privaten zielt. Als Karger die Bedienung Ulrike kennenlernt, sitzt er umgehend mit derselben Muffeligkeit am nächsten Wohnzimmertisch: Melvilles Bartleby („I would prefer not to“), made in Ostdeutschland. Kargers durchaus nicht unsympathische Lethargie verträgt noch allerlei „Schicksalsschläge“, bis der Schmerz so stark wird, dass er seine Heimatstadt Richtung Holland verlässt.
Aufregend an Elke Haucks semi-dokumentarischem Spielfilmdebüt ist, dass es hier endlich um den historischen Schulterschluss der beiden „Berliner Schulen“ der deutschen Filmgeschichte zu gehen scheint. Mit den strengen, beharrlichen ästhetischen Mitteln der aktuellen „Berliner Schule“ (Kamera: Patrick Orth) arbeitet sich „Karger“ mit einem sehr durchdachten Realismuskonzept an einem Milieu ab, dass an die „Berliner Arbeiterfilme“ der frühen 1970er-Jahre eines Christian Ziewer und Klaus Wiese, Marianne Lüdcke und Ingo Kratisch erinnert. Ging es seinerzeit noch um zielgruppenorientierte kollektive Lernprozesse, so fehlt „Karger“ jener utopische Fluchtpunkt, womit der Film politisch die Perspektive seiner Protagonisten teilt. Zu welch präzisen Resultaten der „offene Realismus“ von „Karger“ führt – die Filmemacherin verweist auf Ken Loach und Maurice Pialat als Vorbilder –, wird deutlich, wenn man diesen widerborstigen Film mit seiner „warmherzigen“ Variante – etwa Böhlichs Sozialkomödie „Du bist nicht allein“ (fd 38 239) – vergleicht. So wie Böhlich durch Typecasting (Prahl, Thalbach) und bestimmte „Dresen-Momente“ (kommentierender Einsatz von alten Schlagern) den Zuschauererwartungen in Richtung einer unterhaltsamen Daily Soap mit ihren Sicherheit verheißenden Versatzstücken der sozialen Chiffres zuarbeitet, so reagierte seinerzeit Fassbinder mit „Acht Stunden sind kein Tag“ (1972) auf die Mode der Arbeiterfilme. Es könnte sein, dass man die Debatten um Realismus, Identifikation, Empathie und die Trivialisierung des Sozialen zum Genre demnächst ein weiteres Mal führen muss. „Karger“ wäre diese Debatte allemal wert und zugleich ein guter Ausgangspunkt.
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