Sommer '04
- | Deutschland 2006 | 97 Minuten
Regie: Stefan Krohmer
1 Kommentar
Während der Sommerferien an der Schlei in Schleswig-Holstein fühlt sich eine etwa 40-jährige Frau für die frühreife Freundin des Sohnes verantwortlich, will sie vor den angeblichen Avancen eines Amerikaners schützen und verliebt sich selbst in ihn. Daraus entwickelt sich ein komplexes Familiendrama um die Grenzen von Moral, Schuld und Liebe; was in leichter Ferienatmosphäre beginnt, endet tragisch. Hervorragend gespielt und eindrucksvoll fotografiert, verbindet der anspielungs- und bedeutungsreiche Film die Nonchalance und Beiläufigkeit des französischen Kinos mit einer tiefgründigen Reflexion über das Sexuelle als treibende Kraft im menschlichen und sozialen Leben sowie das Schweigen und die Unaufrichtigkeit im Umgang der Generationen.
- Sehenswert ab 16.
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2006
- Produktionsfirma
- Ö-Filmprod./BR/SWR/WDR
- Regie
- Stefan Krohmer
- Buch
- Daniel Nocke
- Kamera
- Patrick Orth
- Musik
- Ellen McIlwaine
- Schnitt
- Gisela Zick
- Darsteller
- Martina Gedeck (Miriam) · Robert Seeliger (Bill) · Svea Lohde (Livia) · Peter Davor (André) · Lucas Kotaranin (Nils)
- Länge
- 97 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
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Heimkino
Diskussion
Willkommen an der Schlei in Schleswig-Holstein, einer der großen Ostsee-Förden, fast 40 Kilometer lang. Ein flussähnliches Gewässer, schmal und flach, wo Wassersportler optimale Segelsportbedingungen in traumhafter Naturlandschaft finden. Die Schlei verbindet, aber scheidet auch Landschaften voneinander; teilweise ist sie extrem eingeengt, dann wieder weitet sie sich vor Schleswig beachtlich. Dabei hat die Förde fast keine Strömung – vor der Mündung liegt eine starke Sandbarriere, die künstlich offen gehalten wird. Eine „Perlenkette der Idylle“ bilden die Dörfer rings um die Schlei – berühmt als „Heimat“ des ZDF-Landarztes. So oder so ähnlich könnte ein Urlaubsprospekt die Region anpreisen, ohne freilich die symbolhaften Anspielungen im Auge zu haben, die aus dem touristischen Natur- ein brisantes gesellschaftliches Thema machen können. „Sich mitzuteilen ist Natur; Mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist Bildung“, heißt es in Goethes „Wahlverwandtschaften“, und diesem Prinzip folgen Stefan Krohmer und Daniel Nocke, die in der Landschaft gleichnishaft die Befindlichkeit ihrer Protagonisten spiegeln, wobei, um es altmodisch wie bei Goethe zu formulieren, die sozialen Zwänge von Sitte und Norm den individuellen Empfindungen und Neigungen gegenübergestellt werden.
Tatsächlich könnten die etwa 40-jährige Miriam und ihr Lebensgefährte André den „Wahlverwandtschaften“ entsprungen sein, wenn sie ihren Sommerurlaub im idyllischen Reetdachhaus an der Schlei verbringen und sich wie einst Baron Eduard und seine Gattin Charlotte vornehmlich dem Garten und der Parkgestaltung widmen. Auch die sich anbahnenden Konflikte, die aus der Konfrontation mit der jüngeren Generation erwachsen, könnten Goethes „Chemielehre“ entstammen: Addiert man zu zwei verwandten Stoffen A und B einen dritten Stoff C und besitzt dieser eine stärkere Verwandtschaft zu A als A zu B, so verbinden sich A und C „wahlverwandtschaftlich“. Sohn Nils hat eine Urlaubsbegleitung mitgebracht: Livia, eine zwölfjährige Lolita mit wissendem Blick, viel Selbstbewusstsein und frühreifer Entdeckerfreude, mit der sie eines Tages den Amerikaner Bill aufspürt, der sich an der Schlei ein Haus gekauft hat. Miriam wittert Schlimmes, und da sie sich gegenüber Livias Eltern verantwortlich fühlt, will sie Bill und seinen Absichten auf den Zahn füllen – verliebt sich dabei aber selbst in ihn. Es beginnt ein Versteckspiel, das zu diversen Aktionen und Reaktionen führt, Allianzen bildet, Misstrauen bewirkt. Bald sagen Blicke mehr als Worte, das Unausgesprochene liegt schwer über der nur noch scheinbar friedlichen Idylle. Alles wird bedeutungsvoll auf dem verminten Terrain der verwirrten Gefühle, wobei besonders Miriam nicht mehr weiß, ob Livia noch ihre Schutzbefohlene, eine kindliche Freundin oder gar eine amouröse Rivalin ist. Mal geraten die Personen in eine Flaute, dann beäugen sie sich vor der Kulisse einer musealen Moorleiche, ein anderes Mal kommt ein scharfer Wind auf – mit fatalen Folgen. Gerade noch sind Miriam und Livia beim Segeln („Sollen wir tauschen?“, fragt die eine die andere), doch plötzlich ist Livia tot, grausam aus dem Spiel genommen. Wie können und werden die Zurückbleibenden damit leben und umgehen, wer trägt Schuld, wer weist wem die Schuld zu?
Stefan Krohmer und Daniel Nocke beeindrucken mit einem präzisen Generationenporträt, das kleinste Verschiebungen und Auswirkungen im Beziehungsgeflecht einer (familiären) Gruppe auslotet. Dabei ist „Sommer ‘04“ reich an Bezügen und Subtexten, ein kluger, höchst kenntnisreicher Diskurs über Befindlichkeiten und einschlägige Debatten über Liebe, Treue, Lust und Leidenschaft. Was dramaturgisch zurückhaltend in der Tradition der „Berliner Schule“ daherkommt, erweist sich unter der Epidermis des Unspektakulären als brodelndes, präzise und scharfsinnig inszeniertes Drama um fatale Rollenmuster, trügerische Verhaltensweisen und den alltäglichen Widerspruch zwischen Reden und Handeln – wobei auch Eric Rohmer mal eben über die norddeutsche Hagebuttenhecke winken und von „Pauline am Strand“ (fd 24212) und „Sommer“ (fd 31959) erzählen könnte, jenen federleichten Lektionen über die Unklarheiten und die Unerfahrenheit der Jungen in Sachen Liebe, die sich so „natürlich“ entwickeln könnten, würden sie nicht stets mit der verwirrend-verwirrten Erwachsenenwelt konfrontiert. Ja, würde Krohmer dann antworten, genau so ist es auch in unserer Geschichte, aber eben doch auch anders, spannend zwar, aber nicht so erheiternd und deutlich auch mit einem sehr deutschen Akzent. Sohn Nils, der sich in Video-Dokumentationen über den Zweiten Weltkrieg (und den Beginn der deutschen Offensive) verbeißt, pflaumt Miriam einmal an, dass Frauen, die Schnitzler lesen, hässlich und verklemmt seien. Wobei er selbst Protagonist eines Schnitzler-Dramas sein könnte, in dem das Sexuelle treibende Kraft im menschlichen und gesellschaftlichen Leben ist; vielleicht würde er sogar mehr in eine Novelle von Stefan Zweig passen, der noch deutlicher eine erotische Atmosphäre mit der Anklage gegen die Jugendfeindlichkeit der bürgerlichen Welt verband und sich gegen das Schweigen und die Unaufrichtigkeit der Erwachsenengeneration wandte.
Addiert man all diese Ebenen – und dazu noch Goethes „Wahlverwandtschaften“ – zu Krohmers sinnlich wie intellektuell gleich spannendem Diskurs hinzu, dann sind die Verwunderung und der Respekt um so größer, dass der Film nie im akademischen Bezugs- und Beziehungsspiel erstarrt, sondern sich seine vitale, intensive Erzählform bewahrt. Das ist neben dem klugen Drehbuchkonzept den stets präsenten, sehr präzise agierenden Darstellern zu verdanken, auch den jungen: Lucas Kotaranin zeichnet Nils als einen sich hinter scheinbarer „Null Bock“-Haltung verbergenden Charakter zwischen Orientierungslosigkeit, Renitenz und Verzweiflung, der sich nicht länger von seinem Vater (am Ende wortwörtlich) überholen lassen will. Besonders eindrucksvoll gelingt es Martina Gedeck, einen eigenen, gänzlich modernen und damit weit über Goethe, Schnitzler und Zweig hinausweisenden Charakter zu gestalten, der stark und (selbst-)bewusst in der Gegenwart verankert ist. Auf dem schmalen Grat von Aktion und Reaktion, Verantwortung und Selbstverwirklichung im Spannungsfeld von Schuldigwerden und „Schuld abgeben“ kreiert sie eine fragile, zugleich transparente und doch geheimnisvolle Figur, die auch nach einem Schnitt über Raum und Zeit hinweg, der mindestens so drastisch wirkt wie der Moment in Angela Schanelecs „Marseille“ (fd 36715), als Sophie nach Berlin zurückkehrt, noch fasziniert und herausfordert. Schließlich beeindruckt der Film vor allem auch visuell: So wie jeder Dialog (gelegentlich allzu deutlich) gleich mehrfach konnotiert ist, so ist auch nahezu jedes Bild spannungsreich aufgeladen. Wenn der frische Nordsee-Wind die Blätter zum Erzittern bringt, sich das Wasser auf der Schlei kräuselt und sich das helle Segel eines Bootes bläht, wenn sich das Licht in zahllosen Facetten und Nuancen vom hellen, weiten Himmel bis zur dunklen Schlaf-„Höhle“ der Menschen vielschichtig ausdifferenziert – dann entstehen zentrale (Sinn-)Bilder, in denen sich die versteckten und verdrängten Gefühle der Protagonisten entladen oder kanalisieren. Allein schon auf dieser optischen Ebene funktioniert die Geschichte vorzüglich, womit sich Patrick Orth, der schon Filme wie „Bungalow“ (fd 35810), „En Garde“ (fd 36811) und „Montag kommen die Fenster“ fotografierte, endgültig als einer der spannendsten jungen deutschen Kameramänner etabliert.