Eine 18-jährige Mutter in Berlin versucht, zwischen ihren Gefühlen und Pflichten gegenüber ihrem einjährigen Baby sowie ihrem früheren Mädchenleben zu vermitteln und privates Glück zu finden. Die Ansprüche und Verantwortlichkeiten, die die Erziehung des Kindes notwendig macht, überfordern sie und die Beziehung zu ihrem neuen Freund. Ein aufmerksamer, genau beobachtender Film als "éducation sentimentale", der durch die große Präzision gegenüber dem Milieu sowie das nuancierte Spiel der jungen Hauptdarstellerin überzeugt. Dabei stellt die Kamera eine fast dokumentarische Intensität und Nähe zu den Figuren her.
- Sehenswert ab 16.
Lucy (2006)
- | Deutschland 2006 | 82 Minuten
Regie: Henner Winckler
Kommentieren
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2006
- Produktionsfirma
- Schramm Film/ZDF (Das kleine Fernsehspiel)
- Regie
- Henner Winckler
- Buch
- Henner Winckler · Stefan Kriekhaus
- Kamera
- Christine A. Maier
- Schnitt
- Bettina Böhler
- Darsteller
- Kim Schnitzer (Maggy) · Gordon Schmidt (Gordon) · Feo Aladag (Eva) · Polly Hauschild (Lucy) · Ninjo Borth (Mike)
- Länge
- 82 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Von den Franzosen kennt man die Geschichten über viel zu junge Eltern, die sich von ihrer neuen Rolle vor den Kopf gestoßen fühlen. Benoît Jacquot hat sie in „La fille seule“ (fd 32542) mit der damals 19-jährigen Virginie Ledoyen in der Hauptrolle erzählt und zuletzt auch die Brüder Dardenne mit „L’enfant“ (fd 37333), für den sie 2005 in Cannes die „Goldene Palme“ bekamen. Mit „Lucy“ widmet sich jetzt auch ein deutscher Film dem Drama einer verfrühten Elternschaft, und es ist kein Zufall, dass er aus dem Umfeld der „Neuen deutschen Welle“ kommt, deren Vertreter von Film zu Film eine immer deutlichere Vorliebe für die kleinen Erschütterungen privater Lebensentwürfe pflegen.
Maggy steht auf der Schwelle zum Erwachsensein, auch wenn ihr Gesicht noch das eines Kindes ist. Mit 18 Jahren ist sie bereits Mutter. Die einjährige Tochter Lucy erzieht sie gemeinsam mit ihrer 35-jährigen Mutter, die mit einem unterbezahlten Job für den Unterhalt sorgt. Von dem gleichaltrigen Vater, der, mit seiner Ernährerrolle völlig überfordert, im Reihenhaus der Eltern wohnt, hat sie sich längst getrennt. Maggy ist kein Sozialfall, sie könnte aber schnell einer werden. Die Dringlichkeit einer Lösung für ihre improvisierte Existenz steht ihr ebenso ins Gesicht geschrieben wie die Angst, durch das Kind in die Isolation zu geraten. Dennoch ist Maggy kein Opfer. Wenn sie Lucy von der Kita abholt, schlägt sie sich tapfer mit dem Kinderwagen durch den Stadtdschungel. Gelegentlich gönnt sie sich eine Auszeit und überredet mit Notlügen einen ehemaligen Schulkameraden zum Babysitten, um mit ihren alten Freundinnen ausgehen zu können. Ihre überschaubare Welt zwischen Alexanderplatz, Landsberger Allee und Friedrichshain zeigt der Film unspektakulär und mit großer Präzision gegenüber dem Milieu kleiner Leute, die abseits des Hauptstadtrummels ein bescheidenes Dasein von der Hand in den Mund führen.
Als Maggy in der Disco „Matrix“ den wenig älteren Gordon kennen lernt, schlägt ihre unentschiedene Existenz eine neue Richtung ein. Gordon hält sich mit unregelmäßigen Jobs über Wasser, verkauft Elektronikprodukte übers Internet oder arbeitet im „Matrix“ als DJ. Um die Mutter mit der Anwesenheit des neuen Freundes nicht zu belästigen, zieht Maggy mit dem Baby in Gordons Hochhauswohnung in Berlin-Mitte. Die Euphorie des Aufbruchs samt ersehnter Selbständigkeit und der Zauber des Verliebtseins sind schnell verflogen, als es gilt, den Alltag zu bewältigen. Eine Waschmaschine muss wegen der Windeln angeschafft werden, Lucy beansprucht die ganze Aufmerksamkeit, und das Leben als Kleinfamilie hält die „Noch“-Jugendlichen vom nächtlichen Ausgehen und Feiern mit der Clique ab. Die Balance zwischen Muttersein und dem alten Mädchenleben lässt sich nur schwer halten, Gordons Bereitschaft, die Verantwortung mitzutragen, hält sich in Grenzen. „Ich habe mir das irgendwie relaxter vorgestellt“, rutscht ihm irgendwann heraus, ein entlarvender Satz, der Maggy wieder auf sich selbst zurückwirft und sie zum Umdenken zwingt. Was folgt, ist keine deprimierende Sozialstudie oder gar ein Melodram, sondern ein unaufgeregter Blick auf die Normalität des Weiterlebens.
Nach seinem Debüt „Klassenfahrt“ (fd 35610), das eine Schulklasse während einer Reise an die polnische Ostküste porträtierte, lässt Henner Winckler in einer Art inoffizieller Fortsetzung einige der Darsteller aus dem Erstling – die allesamt keine Schauspielprofis sind – erneut in Berlin Abschied von der Jugend nehmen. Entstanden als „Kleines Fernsehspiel“, schert sich der 37-jährige Regisseur wenig um optische Attraktivität oder handlungsbetonte Erzählkonventionen, sondern pflegt in der Einschränkung des Ausdrucks konsequent die kinematografische Rigorosität der „Berliner Schule“. Dazu gehört, dass die unaufdringliche Kamera von Christine A. Maier überwiegend halbnahe Einstellungen bevorzugt und in den engen Räumen eine ungeahnte, fast dokumentarische Intensität und Nähe zu den Figuren erreicht. Gerade mal einige Wochen lang begleitet Winckler Maggys unsichere Versuche, das persönliche Glück für sich zu definieren und gegen die Widerstände der Außenwelt zu verfolgen. Er lässt kein noch so banales Detail ihres inneren Konflikts aus, erspart ihr keine Enttäuschungen und fasziniert trotz fehlender Dramatisierung durch die stille Empathie, die er seiner zwischen Selbstbezug und Mutterinstinkt schwankenden Heldin entgegen bringt. Die wunderbare Kim Schnitzer, 1986 geboren, hat zuvor in drei Kurzfilmen mitgespielt und vermag mit ihrem „unschuldigen“, selbstvergessen nuancierten Spiel auf Anhieb zu überzeugen. Nicht zuletzt dank ihr bleibt dieses introspektive und angenehm leise Frauenporträt nie Behauptung oder kalkulierte Versuchsanordnung, sondern beeindruckt als subtiles Tagebuch einer jugendlichen „éducation sentimentale“.
Kommentar verfassen