Ein tschechisches Dokumentarfilmteam fingiert die Eröffnung eines großen Kaufhauses, wofür es eine riesige Werbekampagne auf die Beine stellt und alle Schritte bis zur vermeintlichen Eröffnung, zu der eine riesige Menschenmenge herbeiströmt, mit der Kamera festhält. Das provokante Filmexperiment wurde in Tschechien kontrovers diskutiert. Es macht sich nicht nur über den Kaufrausch einer verspäteten Konsumnation lustig, sondern analysiert hellsichtig die Erfolgsmechanismen moderner Werbestrategien. Mit einfachen filmischen Mitteln aufbereitet, stellt er bedrängende Fragen nach der manipulativen Macht moderner Marketingstrategien. (O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 14.
Cesky Sen - Der tschechische Traum
Dokumentarfilm | Tschechien 2004 | 90 Minuten
Regie: Vít Klusák
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Filmdaten
- Originaltitel
- CESKY SEN
- Produktionsland
- Tschechien
- Produktionsjahr
- 2004
- Produktionsfirma
- FAMU/Cesky TV/Hypermarket Film
- Regie
- Vít Klusák · Filip Remunda
- Buch
- Vít Klusák · Filip Remunda
- Kamera
- Vít Klusák · Filip Remunda
- Musik
- Varhan Orchestrovich Bauer
- Schnitt
- Zdenek Marek
- Länge
- 90 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
Eine Tasse Kaffee macht glücklich, eine Gesichtscreme wieder jung, ein Deodorant unwiderstehlich. Und sexy macht sowieso alles, was sich kaufen lässt. Wenn man der Werbung glaubt. Aber wer tut das schon? Es ist wohl kein Zufall, dass die wahre Geschichte von „Cesky Sen“ in der Tschechischen Republik spielt, einem Land, das mit den Gepflogenheiten westlicher Konsumgesellschaften noch nicht allzu lange vertraut ist. Allerdings wäre es vermessen anzunehmen, dass sie sich hierzulande nicht fast genauso hätte ereignen können. Vit Klusák und Filip Remunda dokumentieren den Ablauf einer großangelegten Werbekampagne für einen neuen Supermarkt vor den Toren Prags, der nie gebaut werden wird. Gleich zu Beginn erläutern sie ihr Konzept, das im Grunde denkbar einfach ist.
Mitten auf einer Wiese steht eine 10 mal 100 Meter große, bemalte Leinwand. Wenn man von vorne darauf blickt, glaubt man die Fassade eines Einkaufszentrums zu erkennen. Dorthin sollen am Tag der Eröffnung die Massen strömen, um dann festzustellen, dass buchstäblich „nichts dahinter“ ist. Auch die Frage, was sie damit bezwecken, wenn sie gutgläubige Kunden in die Irre führen, stellen die Regisseure schon am Anfang in die laufende Kamera, ohne sie zu beantworten. Das Projekt, so hoffen sie, möge für sich selbst sprechen. Tatsächlich nimmt das, was zunächst nur eine provokative Effekthascherei zu sein scheint, nach und nach erkennbar sozialkritische Konturen an. Eine Mitarbeiterin des Marktforschungsinstituts, das einen Prospekt für den fiktiven Supermarkt auf seine Werbewirksamkeit hin untersucht, distanziert sich von dem Vorhaben; sie halte nichts davon, die Öffentlichkeit zu hintergehen. Der Nachfrage, weshalb sie dann den Auftrag überhaupt angenommen habe, weicht sie aus. Ähnlich doppelmoralisch verhalten sich die Verantwortlichen der mit der Kampagne betrauten Werbeagentur. Einerseits reizt es deren Chef, etwas zu verkaufen, was es gar nicht gibt – das sei die ultimative Marketing-Herausforderung - und, wenn es gelänge, natürlich auch Werbung in eigener Sache: Wer „nichts“ verkaufen kann, kann alles verkaufen. Mit sportlichem Ehrgeiz werfen sich die Kreativen ins Zeug, gestalten Anzeigen, Leuchtreklametafeln, Radio- und Fernsehwerbespots, Werbeflyer, eine Website. Sogar ein von einem Kinderchor gesungenes Lied wird aufgenommen. All das geschieht mit dem klaren Ziel, am „Tag X“ möglichst viele Menschen vor der Kulisse eines nichtexistenten Einkaufsparadieses zu versammeln. Andererseits aber weigern sich die Werber beharrlich, tatsächlich zur Eröffnung des Supermarkts einzuladen. Wie ernst es ihnen mit ihrem Berufsethos ist, zeigt sich in einem Streit mit den Regisseuren. „Vielleicht ist es für euch Filmleute normal, Menschen anzulügen“, sagt einer, „aber wir tun das nicht.“ Aufrichtig sind sie allerdings ebenso wenig. Denn selbst wenn ihre Slogans („Geht nicht hin!“, „Gebt kein Geld aus!“) dazu auffordern, der Eröffnung fernzubleiben, wollen sie doch das Gegenteil erreichen. Werbung entpuppt sich als die doppelbödige, zwielichtige Kunst, mit Hilfe der Wahrheit zu täuschen. Erst am Ende des Films, als die Massen, die am Tag der Eröffnung schon seit Stunden vor den Absperrgittern ausharren, hinter die Fassade blicken, kommt die raffiniert verschleierte Wahrheit zum Vorschein. Wenigstens für die Filmemacher zahlt sie sich aus. Zwar werden sie von vielen als Lügner und Betrüger beschimpft, andere aber bleiben erstaunlich gelassen: „Ihr habt uns ja gesagt, wir sollen nicht kommen.“
Die unerbetene Lektion ist so drastisch wie klar: Werbung verkauft Fantasie, Träume eben. „Der tschechische Traum“ entpuppt sich als Illusion vom Glück im Sonderangebot. Seit 1995 der erste Supermarkt nach westlichem Vorbild in Prag eröffnet wurde, folgten in nur fünf Jahren 125 weitere Hypermärkte in der Tschechischen Republik. Eine Nation im Kaufrausch, die „Cesky Sen“ aufrütteln will. Immerhin gaben sich einige der über 4.000 verhinderten Einkäufer vor der Kamera nachdenklich. Wenigstens, bemerkt einer schmunzelnd, habe er jetzt mal wieder einen Tag an der frischen Luft verbracht und nicht zwischen Einkaufsregalen. „Cesky Sen“ dokumentiert mit einfachsten filmischen Mitteln ein strittiges, in Tschechien viel diskutiertes Experiment. Die Tage vor der Eröffnung war der neue Einkaufstempel eines der Hauptgesprächsthemen Prags; in den Tagen danach war er es immer noch, jetzt unter veränderten Vorzeichen. Selbst im Parlament kam der Film zur Sprache. „Cesky Sen“ handelt nicht nur von Konsumartikeln, die in Supermärkten erstanden werden können, sondern scheinbar nebenbei auch von der Ware „Politik“. Parallel zu den Dreharbeiten lief die 70 Mio. Kronen teure Regierungskampagne für ein „Ja zu Europa“, einen Beitritt der Tschechischen Republik in die EU. Wurde auch hier für etwas geworben, das es eigentlich nicht gibt? Eine Frage, die der Film aufwirft und der sich sogar der tschechische Premier Vladimir Spidla stellen musste. Der „tschechische Traum“, das liegt nahe, ist der kleine Bruder des großen „amerikanischen“. Mit ihrer provokanten und kurzweilig auf den „Showdown“ hin inszenierten Dokumentation stellen die Filmemacher nichts weniger als die gesamte westliche Wertegesellschaft auf den Prüfstand. Aber rechtfertigt das, Tausende, teilweise von weither angereiste Menschen mutwillig zu (ent-)täuschen? Diese letzte, moralische Frage bleibt offen.
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