Der Teufel ist aus der Mode gekommen. Zumindest im öffentlichen Diskurs wird kaum jemand den „Leibhaftigen“ bemühen, um Kriege, Hass und anderes Unheil zu erklären. Doch auch im kirchlichen Raum hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die Rede vom Satan primär ein Sinnbild für lebensfeindliche Strukturen ist, eine metaphorische Umschreibung für die Erfahrung, mitunter ohnmächtig dem Bösen ausgesetzt zu sein. Im Kino dagegen behaupten sich die Mächte der Finsternis ziemlich ungebrochen, wobei die Grenzen zwischen Fantasy und Horror, zwischen Monstern, Dämonen, Geistern und anderen Abkömmlingen der Unterwelt fließend sind. Mit den unheimlichen Bilderwelten dieser Genres verbindet man in der Regel jedoch keine metaphysischen Sachverhalte, die über die Leinwand hinaus Relevanz beanspruchen würden: Nach zwei Kinostunden ist der Spuk vorbei. Das gilt im Grunde auch für Exorzismus-Filme, selbst wenn im Gefolge von William Friedkins Klassiker „Der Exorzist“ (fd 18 987) in den 1970er-Jahren diese Differenz zeitweise nicht mehr verstanden wurde. Vor allem in Deutschland, wo sich die Rezeption dieses Films im Sommer 1976 mit dem Tod der 23-jährigen Studentin Anneliese Michel überlagerte, der wie eine schockierende Wiederholung der Filmhandlung erschien: Die strenggläubige Studentin aus dem unterfränkischen Örtchen Klingenberg hatte sich in ihrem Elternhaus einem Exorzismus unterzogen, weil sie sich von Dämonen besessen fühlte. Die im Film mit den Mitteln des Horrorgenres gespenstisch ausgemalten Vorgänge wurden auf den Fall Anneliese Michels und der Fall auf den Film übertragen, womit sich beide gegenseitig beglaubigten. Das tragische Schicksal der fränkischen Studentin bildet auch den Hintergrund von Hans-Christian Schmids aufwühlendem „Requiem“, das aus dem Abstand von 30 Jahren einen nüchternen Blick auf den „Fall Klingenberg“ wirft und dabei indirekt auch das Mini-Genre des Exorzismus-Films vom Kopf auf die Füße stellt. Seine dezent fiktionalisierte Hauptfigur ist eine junge, hochgewachsene Frau, die sich eingangs mit einem klapprigen Fahrrad eine Anhöhe der Schwäbischen Alb hoch quält. Michaelas Ziel ist eine Kapelle, wo sie auf die Knie sinkt und inständig um etwas bittet. Sie will weg von zu Hause, nach Tübingen, zum Studieren, aber auch weg aus der ländlichen Abgeschiedenheit und der erdrückenden Obhut der Mutter, die ihre Älteste am liebsten nicht aus den Augen lassen will. Denn Michaela leidet seit Beginn der Pubertät an Epilepsie, d.h. sie fällt bisweilen plötzlich um, wird von Krämpfen geschüttelt und verliert das Bewusstsein. Erst mit Unterstützung ihres Vaters schafft sie Anfang der 1970er-Jahre schließlich den Sprung an die Uni, wo sie schnell Anschluss findet und sichtlich aufblüht. Bald macht ihr auch ein Verehrer den Hof, dessen Werben sie scheu genießt. Doch das Glück ist nur von kurzer Dauer. Bei einer Wallfahrt nach Italien zieht es ihr erneut den Boden unter den Füßen weg. Diesmal ist der Anfall jedoch mit Umständen verbunden, die Michaela tief beunruhigen. Sie glaubt im Schattenspiel der Gardinen teuflische Fratzen zu sehen und Stimmen zu hören, die sie als Dreckschleuder beschimpfen. Am meisten aber ängstigt sie, dass sie den Rosenkranz, den sie tags zuvor von ihrer Mutter geschenkt bekam, nicht mehr berühren kann. Auf Drängen einer Freundin sucht Michaela schließlich auch medizinische Betreuung auf, obwohl sie von den Ärzten nichts erwartet. Die neuen Medikamente scheinen jedoch anzuschlagen; weitere Anfälle bleiben zunächst aus. Bis Michaela an Weihnachten zu ihren Eltern fährt, wo unterm Christbaum alle verdrängten Familienkonflikte eskalieren. Die diffuse Melange aus Enttäuschung, unterdrückter Wut und Aggression entlädt sich in einem heftigen Anfall, dessen religiöse Konnotationen zunehmend schriller werden: „Warum gönnt Gott mir mein Glück nicht?“, verzweifelt die Studentin. Vielleicht ist alles ja nur eine Prüfung? Wenn es ihr gelänge, ihre Semesterarbeit fertig zu stellen, würden die Erscheinungen vielleicht verschwinden. Die manische Fixierung auf diese Idee fordert allerdings ihren Preis: Am Ende ist die Arbeit fertig, aber Michaela dem totalen Nervenzusammenbruch nahe. In einer tragischen Verkettung der Umstände willigt sie schließlich ein, sich einem Exorzismus zu unterziehen. „Requiem“ endet dort, wo nach landläufiger Meinung ein Exorzismus-Film erst beginnt: bei der „Teufelsaustreibung“. „Sag, wer von Dir Besitz genommen hat. Sag es! Sag es! Sag es!“, brüllt der Priester in höchsten Tönen die erschöpfte Frau an. Vom Flur aus wirft die Kamera einen langen, traurigen Blick auf dieses Szenario, in dem sich Michaela endgültig dem religiösen Wahnsinn ergibt. Der anfangs so hoffnungsvolle Aufbruch aus dem Herkunftsmilieu, der aus einer verhärmten Jugendlichen eine stolze junge Frau machte, scheitert am Übermaß der Spannungen, die kein Ventil finden, weil weder Michaela noch ihre Umwelt in der Lage sind, die Dinge beim Namen zu nennen. Es fehlt die Sprache, aber auch die Erfahrung im Umgang mit seelischen Ausnahmezuständen, wobei das klug strukturierte Drehbuch eine Vielzahl verpasster Chancen und gescheiterter Kommunikationsversuche skizziert, die dem Leben der Studentin eine andere Richtung hätten geben können. „Requiem“ lässt keinen Zweifel daran, dass Michaelas „Anfälle“ mit akuten psychischen Überforderungen zu tun haben, mit der Ablösung von der Mutter oder den ersten Grenzüberschreitungen zum anderen Geschlecht. Doch Michaela findet für ihre inneren Konflikte keine Worte, sondern nur die Angstbilder einer verstockten Frömmigkeit, die sie schließlich unter dem Druck wahrhaft diabolischer Einflüsterungen gegen sich selbst wendet: als „Sühnebesessene“ durch ihr Leiden am Erlösungswerk Gottes teilzuhaben. „Requiem“ ist ein raues, bedrängendes Seelendrama, das weitgehend auf Filmmusik verzichtet und auf ziemlich unmittelbare Weise am Schicksal seiner Protagonistin teilhaben lässt. Die Kamera bewegt sich durchgängig auf Augenhöhe der von Sandra Hüller grandios verkörperten Hauptfigur, wird fast zum Begleiter und Gefährten, der auch in der Verwirrung nicht von ihrer Seite weicht. Das stringente ästhetische Konzept des Films, der sich das ausgeblichene Design und die gedeckten Farben der frühen 1970-er zu Nutze macht, steht dabei im Dienst einer melancholischen „Compassio“ mit der Hauptfigur, eines solidarischen Mit-Leidens und Mit-Erlebens. Aus diesem Grund verzichtet die Inszenierung auf jede auktoriale Anmaßung und zwingt durch ihre konzentrierte Dramaturgie, die sprunghaften Wendungen und Erlebnisse von Michaela geduldig mitzugehen, wenn man der Figur – und ihrer historischen Vorläuferin – näher kommen will. Besonders beeindruckt die radikale Abkehr von den Exorzismus-Klischees, wodurch der Teufel nicht an die Wand gemalt, sondern in das desorientierte Innere des seelischen Erlebens und seiner familiären Kontexte zurückgebunden bleibt. Denn auch darin lässt es diese filmische Totenmesse nicht an Eindeutigkeit fehlen: dass Michaelas Umwelt und die historischen Umstände an ihrem Schicksal ein gerüttelt Maß an Mitschuld tragen.