Wie jedes Filmgenre ist auch das „Biopic“ durch Erzählkonventionen definiert. Im richtigen Leben lassen sich Biografien freilich nur selten auf solche Muster reduzieren. Deshalb braucht man gar nicht mit Johnny Cashs Lebensgeschichte vertraut zu sein, um zu ahnen, dass „Walk the Line“ diese erheblich vereinfacht, während der Film einige Genremuster besonders rigoros anwendet. Die Handlung beginnt 1968 mit Johnny Cashs berühmtem Konzert im Folsom Prison, dessen Schallplattenfassung lange Jahre die meistverkaufte Country-LP war. In einzelnen, sukzessive ins Gefängnisinnere führenden Einstellungen geht die Kamera einem herrlich primitiven Dröhnen auf den Grund, das derweil die Tonspur dominiert. Während seine Band dem schwerkriminellen Publikum mit durchdringendem Rhythmus bereits kräftig einheizt, sieht man Cash allein hinter der Bühne – in diesem Fall: in der Gefängniswerkstatt, wo er unmittelbar vor seinem Auftritt gedankenverloren ein Sägeblatt berührt. Die Bedeutung dieser Geste erschließt sich, sobald in der gleich darauf einsetzenden langen Rückblende, die Cashs Aufstieg rekapituliert, der Bezug zum Unfalltod seines älteren Bruders ersichtlich wird: Die Großaufnahme des anfänglichen Griffs zum Sägeblatt hat den kommerziellen und künstlerischen Karrierehöhepunkt des Protagonisten unmittelbar mit jenem Kindheitstrauma in Verbindung gebracht, das den vermeintlichen Schlüssel zum Leben des 2003 verstorbenen Musikers liefert. Gleich nach dem Tod des Bruders muss sich der junge Cash von seinem Vater zudem anhören, dass Gott ihm den falschen Sohn genommen habe; in den Folgejahren wird er es dem unnahbaren, verbitterten Vater nicht einmal als großer Star recht machen können. Womit wiederum das zweite prägende Motiv eingeführt ist, das sich als Erklärung sowohl für Cashs ehrgeizigen Aufstieg aus tiefster Armut anbietet, als auch dafür, dass er stets von inneren Dämonen geplagt blieb, was sich in den Song-Texten wie auch in regelmäßigen Phasen extremer Drogensucht niederschlug.
Solche impliziten Erklärungsmuster können den schillernden Widersprüchen eines Lebens wie dem von Johnny Cash unmöglich gerecht werden, aber solche Vereinfachungen gehören nun einmal zu den Konventionen des Genres. Was man dem Drehbuch allenfalls vorwerfen kann, ist, dass es die engen Regeln nicht einmal ausnahmsweise überschreitet. Weil die wechselhaften Karrieren von Johnny Cash und Ray Charles fast zeitgleich verliefen und jeweils sowohl ungewöhnliche musikalische Vielseitigkeit als auch private Turbulenzen aufwiesen, bietet sich ein Vergleich mit Taylor Hackfords Ray-Charles-Biopic an: Auch „Ray“
(fd 36 863) bewegt sich in den engen Grenzen des Genres, bietet aber immerhin eine Szene (in der Charles vom Tod seiner Geliebten erfährt), in der das banale Chaos eines gelebten Lebens kurzzeitig alle Erzählmuster beiseite gewischt wird. Solch ein Moment kann man sich für „Walk the Line“ nur wünschen. Dass der Film vor allem Musikfans trotzdem Vergnügen bereitet, verdankt sich vor allem den beiden Hauptdarstellern. Joaquin Phoenix und Reese Witherspoon weisen keine auffallende optische Ähnlichkeit mit Cash und seiner Ehefrau und Duett-Partnerin June Carter auf, aber sie verströmen, vor allem in den Konzert-Szenen, wunderbar unangestrengt das Charisma zweier Musiklegenden, zumal sie die Songs ihrer Rollen-Vorbilder selbst singen. Auch die Szenen mit anderen Berühmtheiten, die zu Cashs erster Plattenfirma Sun Records gehörten, besitzen verblüffende Nonchalance. James Mangold schafft das seltene Kunststück, Elvis Presley als Nebenfigur in Erscheinung treten zu lassen, ohne dass der eigentlich unvermeidliche Eindruck eines Imitatoren-Auftritts entstünde; und die einzige Szene mit Sun-Chef Sam Phillips, der Elvis und Cash (sowie Jerry Lee Lewis u.a.) entdeckte, lässt in ihrer dramatischen Verdichtung zwar einerseits die Tragweite jenes Moments erahnen, als Cash den Mut zum Vorspielen bei Sun aufbrachte, ist andererseits aber so präzise und spannungsgeladen inszeniert, dass sie keineswegs nur als Illustration von Musikhistorie anmutet. Eine seiner charmantesten Eigenschaften verdankt der Film indes ausgerechnet einer alten Erzählkonvention: Noch lange bevor Cash seine spätere Frau kennen lernt, wird eine Verbindung des Protagonisten zu June Carter hergestellt. Man sieht, wie er als kleiner Junge im Radio einen Song des damaligen Kinderstars hört, und Jahre später stößt Cash während eines Armee-Aufenthalts in Deutschland auf einen Zeitschriften-Bericht über die Sängerin. Keine Frage: Die beiden sind früh vom Schicksal füreinander bestimmt. Das ist zwar reichlich romantisch, aber auch ausgesprochen berührend.