Kanada 1933: Während der Großen Depression wird Winnipeg zur traurigsten Stadt der Welt gewählt. Eine beinamputierte Brauerei-Besitzerin will daraus Kapital schlagen und schreibt einen Wettbewerb um die traurigste Musik der Welt aus. Musiker aus aller Herren Länder reisen an, doch bald haben der Ex-Geliebte der Frau, sein serbischer Halbbruder und beider kanadischer Vater die Nase vorn. Der eigenwillige Schwarz-weiß-Film mit farblichen Einsprengseln ist gestalterisch ganz den deutschen Filmen der Weimarer Jahre verpflichtet. Eine ebenso reiz- wie anspruchsvolle Mischung aus Drama, Musical, Romanze und Komödie voller Sprachwitz und Erinnerungen an vergangene Filmsprachen.
- Ab 16.
The Saddest Music in the World
Komödie | Kanada 2003 | 99 Minuten
Regie: Guy Maddin
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Filmdaten
- Originaltitel
- THE SADDEST MUSIC IN THE WORLD
- Produktionsland
- Kanada
- Produktionsjahr
- 2003
- Produktionsfirma
- Buffalo Gal Pic./Rhombus Media/TVA Int.
- Regie
- Guy Maddin
- Buch
- Guy Maddin · George Toles
- Kamera
- Luc Montpellier
- Musik
- Christopher Dedrick
- Schnitt
- David Wharnsby
- Darsteller
- Mark McKinney (Chester Kent) · Isabella Rossellini (Lady Port-Huntley) · Maria de Medeiros (Narcissa) · David Fox (Fjodor) · Ross McMillan (Roderick/Gravillo)
- Länge
- 99 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 16
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Komödie | Drama | Liebesfilm | Musical
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Die Edition enthält u.a. ein informatives Booklet sowie die fünf Maddin Kurzfilme: "Cowards bend the knee" (60 Min.), "Sissy-Boy Slap-Party" (6 Min.), "Sombra Dolorosa" (7 Min.), "A trip to the orphanage" (4 Min.) und "The Heart of the World" (6 Min.).
Diskussion
Einst konnte man seinen Filmen „Lawinen über Tölzbad“, „Tales from the Gimli Hospital“ oder „Archangel“ (fd 28 894) allenfalls in wenigen Programmkinos, im Nachtprogramm des Fernsehens oder auf Festivals begegnen. Dabei sind die Arbeiten des Kanadiers Guy Maddin tatsächlich so einzigartig, dass man sie sofort erkennt: pure postmoderne Bricolage, Nachempfindungen alter Filme, die wie durch einen Schleier hindurch zum Zuschauer sprechen. Liebevoll wird das Zelluloid beschädigt, durch Kratzer und Anschlussfehler auf „alt“ getrimmt, so, als seien die Filme nach zahllosen Vorführungen irgendwann aus dem Verleih genommen worden. Die Ausleuchtung ist eine Hommage an den „expressionistischen“ Film der Weimarer Jahre, die Montage zitiert die sowjetische Avantgarde. Die naiv-abgründigen Geschichten, die Maddin, ein großer Bewunderer Buñuels und wohl auch Murnaus, erzählt, reiben sich an der künstlich hergestellten Form.
Jetzt kann man die Magie der Bilderwelten Maddins endlich einmal auf der großen Leinwand erleben. „The Saddest Music in The World“ ist formal ein früher Tonfilm, inhaltlich eine brillante Mischung aus den düsteren, schwarz-romantischen Szenarien eines Tod Browning („Freaks“, 1932, besonders „The Unknown“, 1927) und den Musicals eines Busby Berkeley. Der Film spielt während der Großen Depression des Jahres 1933, als Winnipeg zum vierten Mal in Folge zur „Welt-Hauptstadt des Kummers“ gekürt wurde. Der einst erfolgreiche, zynische und absolut herzlose Broadway-Impresario Chester Kent („Sadness is just happiness, turned on its ass!“) kehrt in seine Heimat Winnipeg zurück, wo die Bier-Baronin Lady Port-Huntley soeben einen internationalen Wettbewerb zur Suche nach dem traurigsten Lied der Welt initiiert hat. Als professioneller Experte für „Schmalz“ glaubt Chester seinen Sieg sicher. Doch dann kommen traurige Musiker aus aller Welt, um in Winnipeg ihre traurigen Lieder vorzutragen – im Film ist diesbezüglich sinnigerweise von einem „Umzug des Elends“ die Rede. Die geschäftstüchtige Lady Port-Huntley weiß nämlich genau, dass der Bierkonsum unter traurigen Menschen ganz immens sein muss – und auch, dass die Prosperität der Bier-Industrie beendet sein wird, wenn in den USA die Prohibition aufgehoben wird. Zugleich aber erzählt der Film auch ein surreales Melodram um verlorene Brüder, verlorene Lieben, Amnesie und Erinnerung, in dem es auch um den grotesken Unfall geht, bei dem Lady Port-Huntley einst dank der Trunksucht des Arztes Fyodor, Chesters Vater, ihre beiden Beine verlor. Sie wird sie dann später durch zwei gläserne, biergefüllte Prothesen ersetzen lassen, die im Finale der serbische Cellist Gavrillo, der in Wahrheit Chesters verschollener Bruder Roderick ist, durch sein furioses Spiel zersplittern lässt. Das traurigste Lied wird am Ende der gefühllose Chester selbst singen, wenn er am Piano bei lebendigem Leibe verbrennt. Originell, irrwitzig, absurd, voller abseitiger und bisweilen auch recht gegenwärtiger Obszönitäten („Sind sie Amerikanerin?“ – „Nein, ich bin eine Nymphomanin.“ – „Egal, solange Sie keine Amerikanerin sind!“), Screwball-Sprachwitz und politischer Untertöne – die Figur des Pragmatikers Chester ist purer Anti-Amerikanismus – ist dieser vor Ideen schier platzende Ausflug in die Untiefen der Filmgeschichte für Maddins Verhältnisse ungemein unterhaltsam und auch zugänglich. Als Film über die Erinnerung in erinnerten (Film-)Sprachen, die immer auch eine Spur von „Eraserhead“ (fd 22 752) in sich tragen, ist „The Saddest Music in the World“ ein höchst ungewöhnliches „Midnight Movie“; der Fantasie scheinen keinerlei Grenzen gesetzt, die Filmtricks sind handgemacht, staunenswert und passen wunderbar zu Michel Gondreys „Science of Sleep – Anleitung zum Träumen“ (fd 37 809). Mark McKinneys aasige Darstellung des schmierigen Impresarios ist schlicht eine Wucht, und Isabella Rossellini als Lady Port-Huntley liefert ihre eindrucksvollste Performance seit „Blue Velvet“ (fd 26 040).
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