Eine 18-jährige Schülerin bleibt in der zwölften Klasse zum zweiten Mal sitzen; alle Hoffnungen aufs Abitur sind damit gescheitert. Dies den karriereorientierten, mehr mit sich selbst als mit der Tochter befassten Eltern zu gestehen, wagt die junge Frau nicht und verfängt sich in einem immer dichteren Netz aus Lügen und Verstellungen. Auf dem schmalen Grat von (Jugend-)Komödie und (bürgerlichem) Katastrophenszenario entwickelt der vor allem in Details aufmerksam inszenierte Film mal spielerisch, mal dramatisch den Kontrollverlust der ebenso haltlosen wie charakterfesten, hervorragend gespielten Hauptfigur.
- Ab 14 möglich.
Wahrheit oder Pflicht
Jugendfilm | Deutschland 2004 | 90 Minuten
Regie: Arne Nolting
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2004
- Produktionsfirma
- 2 Pilots Filmprod./WDR/Kunsthochschule für Medien (KHM)
- Regie
- Arne Nolting · Jan Martin Scharf
- Buch
- Arne Nolting · Jan Martin Scharf
- Kamera
- Ralf M. Mendle
- Musik
- Jörg Follert · Klee
- Schnitt
- Benjamin Ikes
- Darsteller
- Katharina Schüttler (Annika) · Thomas Feist (Kai) · Jochen Nickel (Annikas Vater) · Therese Hämer (Annikas Mutter) · Thorben Liebrecht (Uli)
- Länge
- 90 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14 möglich.
- Genre
- Jugendfilm | Komödie | Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Am Ende ist man immer klüger, so auch die 18-jährige Annika, die gleich zu Beginn resümiert: „Mit einer Lüge lebst du wie ein Kreisel. So lange du schnell genug rotierst, scheint das Leben still zu stehen. Doch wenn du langsamer wirst, gerät alles ins Trudeln.“ Ein ganzes Jahr hat Annika gebraucht, um sich zu dieser Einsicht durchzuringen, ein langes, chaotisches und kompliziertes Jahr voller (Not-)Lügen und Ausflüchte, verschleiernder Rollenspiele und taktischer Verstellungen gegenüber den Eltern, den Mitschülern und vor allem gegenüber Kai, jenem jungen Mann, den sie zu lieben begonnen hat und den sie dennoch enttäuscht, weil sie längst nicht mehr der Eigendynamik ihres Lügenwerks entrinnen kann. Am Ende hat Annika alles in Frage gestellt: ihr Selbstwertgefühl, ihre Hoffnungen und Träume, ihre Freundschaften und ihre Liebe. Dabei begann alles unbeabsichtigt, quasi spontan, geboren aus der Not des Moments: Zum zweiten Mal war Annika sitzen geblieben, das Abitur war damit futsch, was blieb, war der nutzlose Trost des Lehrers: „Du hast eine gute mittlere Reife...“ Wie aber dies den erwartungsvollen kleinbürgerlichen Eltern klarmachen? Jenem immerzu grantigen, als Pilot selbst unter hohem Leistungsdruck stehenden Vater und jener leicht fahrigen Mutter, die das gepflegte Eigenheim in einer genormten Neubau-Siedlung zum Ausgangspunkt für ihre lokalpolitischen Provinz-Ambitionen nutzt? Beide hören nur das, was sie hören möchten, und wollen sich gar nicht zu sehr auf ihre Tochter einlassen; die bloße Erfüllung der Norm gibt ihnen die Sicherheit, mag diese auch noch so trügerisch sein. So glauben sie nur zu gern, dass Annika versetzt wurde – und gehen davon aus, dass nach den Ferien Annikas entscheidendes Schuljahr vor dem Abitur anbricht. Damit beginnt sich der Kreisel zu drehen – und schon bald zu trudeln.
Auf dem schmalen Grat von (Jugend-)Komödie und (bürgerlichem) Katastrophenfilm spielen Jan Martin Scharf und Arne Nolting in ihrem ersten langen Spielfilm mal spielerisch, mal dramatisch die Konsequenzen jener aberwitzigen Dynamik durch, die sich schrittweise jeglicher Kontrollierbarkeit entzieht und eine junge Frau an den Rand des Identitätsverlusts bringt. Das ist im Kern nichts anderes als eine der gängigen Coming-of-Age-Geschichten um Selbstfindung und -behauptung eines jungen Menschen, wie sie im jungen deutschen Film immer wieder erzählt werden und fast schon zur Konvention geworden sind. Doch die gängige Folie wird hier zum reizvollen Ausgangspunkt für eine ganze Reihe subtil beobachteter und verdichteter Details, die von der präzisen Ausstattung von Lebens- und Wohn(t)räumen bis zu einer geschickt ausformulierten Filmsprache reicht, die die mitunter skurrilen und amüsanten, oft sogar spannenden „Twists“ der Geschichte als im Kern stets allgemeingültige Situationen erkennbar macht, wie sie wohl so mancher im eigenen alltäglichen „Kampf“ mit der Wahrheit oder eben auch der Flunkerei wiederfindet, etwa wenn es darum geht, sich ins rechte Licht zu setzen und es den Mitmenschen recht zu machen. Dass solche aufmerksamen Szenen nicht allzu rigoros zu einer Einheit komponiert wurden, ist durchaus eine Qualität, ermöglicht es den Regisseuren (neben eher plakativen satirischen Spitzen aufs bürgerliche Familienleben) doch immer wieder auch „aufmüpfige“ Wendungen oder Brüche in der Erzähllogik, etwa wenn Annikas Bemühen um einen Ausbildungsplatz zum witzigen Werbefilm für Berufe wie Zerspannungstechniker oder Seegüterkontrolleur gerinnt oder wenn man am Ende mit einer überraschend „rebellischen“ Vision konfrontiert wird. Emotional glaubwürdig wird die Geschichte vor allem durch die uneingeschränkte Sympathie der Regisseure für ihre ebenso haltlose wie doch stets auch charakterfeste Hauptfigur. Die faszinierende Katharina Schüttler haucht Annika viel Leben ein und speist sie dank ihres souveränen Spiels mit der notwendigen Glaubwürdigkeit.
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