Eine Bilderbuch-Idylle in Indiana im mittleren Westen der USA, so idealtypisch und spießig, wie man es aus unzähligen Hollywood-Filmen kennt: Hier leben gute, gottesfürchtige Leute, die nichts Böses im Schilde führen; die Nachbarschaft ist solide, die sozialen Verhältnisse sind intakt, nachmittags duftet es nach Apfelkuchen; das aufregendste öffentliche Ereignis sind die örtlichen Baseballmeisterschaften. Einer dieser glücklichen Menschen ist Tom Stall. Auf einer kleinen Farm, direkt neben Maisfeldern, lebt er mit seiner Frau Edie, einem ehemaligen Cheerleadergirl, und seinen beiden sympathischen Kindern. Edie hat einen lukrativen Anwaltsjob, Tom selbst betreibt einen Coffee-Diner; tagaus, tagein steht er hier hinter dem Tresen, ein beliebter Mittelpunkt des Kleinstadtlebens.
Die Alltagsexistenz dieser amerikanischen Musterfamilie wird von David Cronenberg so detailliert ausgemalt, um sie anschließend um so sarkastischer auseinander nehmen zu können. Denn dass es so nicht bleiben kann, ist von Beginn an klar. Selbst wenn man die Filme des Kanadiers nicht kennt, spürt man die Distanz des Regisseurs zu seinem Stoff, die analytische Kühle, mit der er die Genre-Erwartungen erfüllt, und emotional doch unbeteiligt bleibt, leicht spöttisch und überlegen gegenüber der Naivität seiner Figuren und ihres kleinen Glücks. Wie in einem Horrorfilm lastet eine Anspannung auf den Figuren, deren Ursache erst im Laufe des Films erkennbar wird. Eines Abends, Tom will gerade schließen, erscheinen späte Gäste im Diner. Augenblicklich liegt Bedrohung in der Luft, schon das unsympathische Aussehen der Männer lässt ahnen, dass hier zwei äußerst brutale Schurken am Werk sind. Doch Tom, der vermeintliche Durchschnittsbürger, legt ungeahnte Fähigkeiten an den Tag: Mit einer Kanne heißen Kaffees setzt er sich effektiv zur Wehr, und am Ende liegen die Angreifer tot am Boden. Sie wurden zwar in Notwehr, aber doch mit einer Entschlossenheit zur Strecke gebracht, die etwas Unzivilisiertes, Gewalttätiges sichtbar macht, das so gar nicht zu dem braven Familienvater passen will.
Binnen Tagen avanciert der wehrhafte Alltagsmensch zum Helden Amerikas, das in Gewalt auch immer eine Befreiung sieht, einen Ausweg aus der Komplexität des Daseins. In Tom wird der Repräsentant einer alttestamentarischen Lebensphilosophie gefeiert, einer ethischen Haltung, die nach Pioniertagen riecht, in der die Menschen mangels rechtsstaatlicher Institutionen die Dinge selbst in die Hand nahmen und sich notfalls mit der Waffe zur Wehr setzten. Der klassische Western hat diese Haltung auf der Leinwand ebenso gefeiert wie später die „Intruder“-Filme – etwa „Cape Fear“ von 1962
(fd 11 345) und Scorseses Remake
(fd 29 409) –, in denen das friedliche, wohlgeordnete Heim von einem Eindringling heimgesucht wird, der, um den Frieden wiederherzustellen, vom Helden mit meist rabiaten Mitteln wieder vertrieben wird. Dies ist auch das Thema von „A History of Violence“. Denn es ist keineswegs allein die Bescheidenheit des braven Bürgers, die es Tom im Blitzlichtgewitter so unbehaglich werden lässt. Einige Zeit nach dem Überfall, der Frieden scheint gerade wiederhergestellt, erhält er erneut ungebetenen Besuch. Vor allem einer der Männer entspricht mit seinem vernarbten Gesicht und einem blinden Auge allen Klischees des Bösen. Anfangs erscheint dieser Carl Fogarty wie ein Geist, und in einem Stephen-King-Roman bliebe er das auch. Hier jedoch erweist er sich als Relikt einer Vergangenheit, die Tom erfolgreich verdrängt hat. Nur in seinen Instinkten, im Körpergedächtnis, das in der lebensbedrohenden Situation des Überfalls das Kommando übernahm, ist sie noch präsent. Anfangs versucht Tom noch zu leugnen, überzeugt seine schockierte Frau und die Zuschauer, dass es sich um eine Verwechslung handelt – doch bald wird klar, dass Tom einst Joey hieß und ein hohes Tier bei der Mafia in Philadelphia war. Jetzt holt ihn seine alte Identität ein, und die Gewalt der Vergangenheit gebiert neue Gewalt – denn der einzige Ausweg scheint für Tom darin zu bestehen, sich seiner Verfolger endgültig zu entledigen.
Man kann diesen blutigen Vernichtungsfeldzug Toms, zu dessen moralischer Rechtfertigung Cronenberg immerhin einige Entschuldigungsgründe anführt, als Wendung ins Reaktionäre verstehen. Doch das wäre die schlichteste Lesart, für die es in Cronenbergs bisherigem Werk keinen einzigen Anhaltspunkt gibt. Sie unterschlägt außerdem, dass es Cronenberg auch hier nicht um eine moralisch eindeutige Geschichte geht oder um die ungebrochene Parteinahme für seine Figuren, sondern vielmehr um das freudianische Urthema der Rückkehr des Verdrängten – und die existenzialistischen Themen des Film noir. Überdeutlich erinnert „A History of Violence“ an Jacques Tourneurs Klassiker „Out of the Past“ („Goldenes Gift“, fd 24 918), in dem Robert Mitchum gleichfalls einen Ex-Gangster spielt, der in einer Kleinstadt ein neues Leben beginnt, aber von seiner Vergangenheit wieder eingeholt wird. Dieses Modell überträgt der Film auf die gegenwärtige US-Gesellschaft. Cronenberg treibt ein komplexes Spiel mit den Mythen und Selbstbildern Amerikas, wobei dies weit weniger eindimensional ausfällt als beispielsweise Lars von Triers arrogante, aber visuell arme Pamphlete „Dogville“
(fd 36 175) und „Manderlay“.
Wenn man schon zu alttestamentarischen Topoi greifen will, dann handelt es sich in diesem Fall um eine Vertreibung aus dem Paradies vermeintlicher Unschuld. Diese Unschuld gibt es nicht; bei genauerer Betrachtung verwandelt sich der idyllische Garten Eden Amerika in eine Schlangengrube. Das scheinbar Normale ist auf Leichen gebaut, und Tom so unnormal wie alle anderen Figuren Cronenbergs; hinter jedem guten Gewissen lauert die Verdrängung, und Gewalt ist universal. Inszeniert wird dies hier als schwarze Komödie. In seiner Ironie und Doppelbödigkeit gleicht „A History of Violence“ überraschenderweise dem stilistisch entgegengesetzten „Cache“ von Michael Haneke, in dem ebenfalls eine (allerdings großbürgerliche) Idylle urplötzlich von einer Vergangenheit heimgesucht wird, die nicht nur den Familienzusammenhalt, sondern auch die Identität der Hauptfigur in Frage stellt.
Der wichtigste Aspekt ist freilich Cronenbergs Spiel mit der Wahrnehmung der Zuschauer, das hier eine neue Facette gewinnt. Der Film verführt den Zuschauer durch die virtuose Inszenierung, Toms Verhalten zu billigen. Wer dies als bloßen Ästhetizismus abtun will, stößt damit an die Grenzen seiner eigenen Wahrnehmung. Schrille Gewaltszenen sind ein früher Hinweis darauf, dass diese Position zu bequem sein könnte. Wie das Bild der Familie zu Beginn nimmt auch die Inszenierung mehr und mehr comichafte Züge an: der Stoff geht tatsächlich auf einen Comic von John Wagner und Vince Locke zurück, woraus sich manche Schlichtheit der Darstellung wohl erklären mag. So gelingt Cronenberg mit „A History of Violence“ nicht allein eine zeitlose Anthropologie der Gewalt mit den Mitteln des Kinos, sondern eine kühle, kluge, virtuose Dekonstruktion des Mainstream-Actionfilms. Das kann sich nur einer erlauben, der zugleich dessen Mittel beherrscht.