Die schönsten Geschichten handeln von Grenzerfahrungen; sie greifen immer ein wenig über das Fassbare hinaus, auch auf die Gefahr hin, den Leser zunächst zu überfordern. Richten sie sich an Kinder, gilt das umso mehr. So sind die Monster in „James und der Riesenpfirsich“
(fd 32 025) gruseliger als erwartet, und die Oberhexe in „Hexen hexen“
(fd 28 363) erscheint selbst Erwachsenen albtraumhaft. Den englischen Aphorismus „No Pain, no gain“ (Kein Schmerz, kein Fortschritt) hat der Waliser Roald Dahl in seinen Geschichten schon immer berücksichtigt; wer sich von seinen Werken bezirzen ließ, blieb nicht ungeschoren. Gleiches kann man auch von den Filmen Tim Burtons behaupten, weshalb es eigentlich verwunderlich ist, dass es nicht schon viel früher zu einer Zusammenarbeit beider Geister gekommen ist (bei „James und der Riesenpfirsich“ fungierte Burton lediglich als Produzent). Denkt man an Pee-wees kopfstehendes Abenteuerland, die Scherenhände von Edward, die Weltfremdheit von Ed Wood oder die träumerische Fantasie von Ed Bloom aus „Big Fish“
(fd 36 429), so liegt es auf der Hand, dass Willy Wonkas Schokoladenfabrik ein Leckerbissen für Tim Burton gewesen sein muss.
Den geheimnisumwitterten Maschinenpark dieser Fabrik hat 15 Jahre lang kein Mensch mehr gesehen. Sein exzentrischer und äußerst kreativer Besitzer hatte einst alle Arbeiter daraus verbannt, weil die Rezepte zur Herstellung von Drei-Gänge-Kaugummis, immerwährenden Lutschbonbons oder Wonkas Wunder-Weichcreme-Füllung gestohlen worden waren. Die Menschen des angrenzenden Städtchens (das in Amerika liegt, obwohl es hier so aussieht wie eine deutsche Kleinstadt) haben sich während dieser Jahre daran gewöhnt, kaum noch Arbeit zu haben. Auch die Buckets ernähren sich schon lange primär von Kohlsuppe. Als Vater Bucket seinen Job in der Zahnpastafabrik verliert, verschlingt der kleine Charlie die Geschichten seines Großvaters Joe mit noch mehr Genuss: Denn der Alte war einer der letzten Mitarbeiter der Schokoladenfabrik.
Bis Charlie – und mit ihm der Zuschauer – endlich die heiligen, großen, unsagbar schönen Hallen zu sehen bekommt, in denen Schokoladenmilch und Honig in Strömen fließen, Gummibärchen auf Bäumen wachsen und Dauerlutscher zwischen Candygras sprießen, muss er sich jedoch erst von allen Träumen verabschieden. Zwar hat sich Willy Wonka nach Jahren des Rückzugs neulich in der Öffentlichkeit gezeigt und kundgetan, dass er in seinen Schokoladenriegeln fünf Eintrittskarten für eine Fabrikbesichtigung versteckt habe und obendrein auf einen der Finder ein sagenhafter Gewinn warte; doch wie groß mag wohl die Chance eines armen Jungen sein, der lediglich zum Geburtstag eine echte Wonka-Tafel geschenkt bekommt? Doch wie es das Märchen will, darf Charlie mit seinem Großvater Willy Wonka kennen lernen und auf eine fantastische Reise durch die Fabrik begleiten, allerdings erst nach einer langen Reihe von Prüfungen. Die Weggefährten, die Charlie den Preis streitig machen wollen, sind der Vielfraß Augustus Gloop, der verzogene Mike Teavee, die egozentrische Veruca Salt und die eingebildete Violet Beauregarde. So überlegen diese vier dem unauffälligen Charlie auch sind: die Prüfungen, die sich Wonka ausgedacht hat, erfordern mehr als materielle Qualitäten.
Roald Dahl ist 1990 im Alter von 74 Jahren verstorben, aber er hinterließ Burton nicht nur eine wunderbare Vorlage, sondern auch ein fertiges Drehbuch, das er 1971 für Mel Stuarts gleichnamiges Filmmusical
(fd 17 651) schrieb. Daran haben sich Burton und sein Drehbuchautor John August weitgehend orientiert. Burtons Hang zu überbordenden emotionalen Extremen machte aus dem Schokoladenfabrikanten, der vor 30 Jahren von Gene Wilder verkörpert wurde, eine bizarre Mischung aus einem romantischen Weißclown und dem Zauberer von Oz; Burtons Lieblingsschauspieler Johnny Depp findet für diese Charakterisierung eine kongeniale Umsetzung und siedelt seinen Charakter zwischen seiner Buster-Keaton-Hommage in „Benny & Joon“
(fd 30 347) und dem zerbrechlichen Monster „Edward mit den Scherenhänden“
(fd 28 836) an. Das Singen überlässt Depp indes den in der Fabrik omnipräsenten Heinzelmännchen aus dem fernen Lumpaland, die, einem griechischen Chor gleich, das Schicksal der Protagonisten in „poppige“ Versmaße fassen – die Burton und sein Hauskomponist Danny Elfman direkt aus der Buchvorlage entnommen haben.
Das ganze zuckersüße Buttercreme-Szenario um Gutmenschentum, Familienidylle und Gerechtigkeitsfantasien hätte leicht in eine sauertöpfige Mischung aus Zeigefingerpädagogik und konservativer Spießigkeit umschlagen können. Doch Burton bearbeitet die hintergründige Vorlage mit dem nötigen Drive, spickt sie mit schockierenden Momenten und amüsanten Filmzitaten, so dass sowohl Kinder als auch Erwachsene neben der emotionalen auch eine intellektuelle Achterbahnfahrt durchleben. Eine wichtige Änderung gegenüber dem Buch und der Drehbuchvorlage Dahls nimmt sich Burton indes doch heraus: Er schenkt seinem „Zauberer“ Wonka eine Vergangenheit, indem er in (albtraumhaften) Rückblenden dessen Kindheit beschreibt. Als strengen Vater, der als Zahnarzt seinem Sohn eine traumatische Beziehung zu Süßigkeiten einimpft, fügt Burton den von ihm hochverehrten Christopher Lee in seinen Film ein. Wie in „Edward mit den Scherenhänden“, in dem er dem greisen Vincent Price ein Denkmal setzte, ehrt er nun den anderen großen Mann des Horrorkinos auf seine unnachahmliche und ergreifende Weise.