Ein reicher Unternehmer wird von einem erfolglosen ehemaligen Angestellten entführt, um Lösegeld zu erpressen. Zwischen den beiden Männern entwickelt sich eine schwierige Beziehung aus (erzwungener) Nähe und psychologischem Kräftemessen. Raffiniert konterkariert wird dies durch eine Parallelhandlung um die Ehefrau des Opfers, die während der Polizeirecherchen ihr nur scheinbares Familienidyll zerbröckeln sieht. Ein beklemmendes, hervorragend gespieltes und inszeniertes Soziogramm, das subtil eine Gesellschaft zeichnet, die sich in den Netzen ihrer eigenen Ideologien verfängt und leerläuft.
- Sehenswert ab 14.
Anatomie einer Entführung
Drama | USA/Deutschland 2004 | 95 Minuten
Regie: Pieter Jan Brugge
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Filmdaten
- Originaltitel
- THE CLEARING
- Produktionsland
- USA/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2004
- Produktionsfirma
- Fox Searchlight Pic./The Clearing/Thousand Words/Mediastream Dritte Film
- Regie
- Pieter Jan Brugge
- Buch
- Justin Haythe
- Kamera
- Denis Lenoir
- Musik
- Craig Armstrong
- Schnitt
- Kevin Tent
- Darsteller
- Robert Redford (Wayne Hayes) · Helen Mirren (Eileen Hayes) · Willem Dafoe (Arnold Mack) · Alessandro Nivola (Tim Hayes) · Matt Craven (Agent Ray Fuller)
- Länge
- 95 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama | Krimi
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Diskussion
Eine (scheinbar) einfache Geschichte über Eheroutine und Sozialneid, über für die Öffentlichkeit produzierte und öffentlich präsentierte Erfolgsbiografien, Vertrauen und Respekt und über den amerikanischen Traum. Eines Morgens erwacht Arnold Mack und weiß, dass dieser Tag sein Leben verändern wird. Arnold hat sich – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben – entschlossen, sein Glück selbst in die Hand zu nehmen. Dazu hat er einen fast wasserdichten Plan entwickelt: Er wird den erfolgreichen Self-made-Unternehmer Wayne Hayes, den er seit einiger Zeit beobachtet und längst auch bewundert, in seine Gewalt bringen und ein Lösegeld erpressen. Arnold ist ein Verlierer, der glaubt, nichts mehr verlieren zu können, und sieht sich als Opfer einer unmenschlichen Gesellschaft. Er besitzt eine Waffe und ist bereit, diese auch zu benützen. Gemeinsam begeben sich die beiden Männer auf einen langen Marsch durch die unzugängliche Hügellandschaft nahe Pittsburgh. Arnold erzählt seinem Opfer, dass er nur der Mittelsmann sei, der Hayes bei einer abseits gelegenen Hütte seinen Auftraggebern übergeben solle. Rasch entwickelt sich die Beziehung zwischen beiden Männern zur spannungsvollen Mischung aus Annäherung und pschologischem Zweikampf. Die bestehenden Klassenverhältnisse reproduzieren sich in der Extremsituation: Der Erfolgsmensch zeigt seine rhetorische Gewieftheit und verwickelt seinen Peiniger in subtile Psycho-Spielchen. Arnold hingegen wirkt von der Situation überfordert, bettelt um ein wenig Freundlichkeit und schwelgt ansonsten in mühsam diszipliniertem Selbstmitleid. Irgendwann kommt heraus, dass sich die beiden sogar kennen, weil Arnold einmal Waynes Angestellter war; auch, dass sie sogar zusammen gegessen haben. Wayne kann sich daran nicht erinnern, er hatte Arnold buchstäblich übersehen.
Weil dieses „Figures in a landscape“-Kammerspiel unter älteren und schon etwas gebrechlichen Männern auf Dauer etwas fade wäre, hat sich Pieter Jan Brugge für eine Parallelhandlung entschieden. Hier geht es um die – durchaus konventionelle – Reaktion der Familie auf das Verbrechen. Zunächst „verspätet“ sich Wayne bei einem Abendessen. Ehefrau Eileen ist erbost und entschuldigt sich bei den Gästen. Später beginnt sie sich zu sorgen und schaltet schließlich das FBI ein. Die Polizeibeamten richten sich in der merkwürdig unbehaust erscheinenden Hayes-Villa ein und warten auf eine Lösegeldforderung. Sie beginnen auch, in der Vergangenheit Waynes nachzuforschen, um mögliche Tatverdächtige zu ermitteln. Dabei bekommt die nach Außen mustergültige Ehe der Hayes rasch Risse: Wayne hat Eileen betrogen und diese Beziehung trotz anderslautender Versprechen niemals beendet. Schmerzliche Dinge kommen ans Tageslicht, die makellose Fassade des Familienglücks bröckelt. Eileen begegnet der Geliebten ihres Mannes und muss sich wiederholt ihres Familienglücks physisch versichern, indem sie Kinder und Enkel um sich versammelt. „Anatomie einer Entführung“ liefert zugespitzte Szenen einer Ehe durch Gespräche über einen Abwesenden. Deutlich wird in der Retrospektive der Preis, den die Familie Hayes für ihren Erfolg und Wohlstand zahlen musste.
Dass das nach außen getragene Bild nun auch noch für die Zerstörung der Familie verantwortlich ist, zählt zur dialektischen Ironie der Geschichte, ebenso wie die Tatsache, dass sich die Liebe zwischen den Eheleuten erst im Imaginären, gleichfalls in der Erinnerung an den Verlust, beweist. Elegant bedient sich Brugge in seinem Regiedebüt bei den Distanzierungstechniken von Brechts epischem Theater, setzt mehr auf das Gestische als auf Action – mit einer bedauerlichen Ausnahme, einer nächtlichen Lösegeldübergabe –, und nutzt das Production Design stilsicher zur Figurencharakteristik. Dazu passt, dass er zwar auf Stars wie Robert Redford und Willem Dafoe setzt, diese aber in ihren schauspielerischen Manierismen diszipliniert und ihnen die außerordentlich beeindruckende Helen Mirren entgegenstellt, deren eiserne Selbstdisziplin und Beherrschtheit den Film mit Eiseskälte ausstattet. Völlig unspektakulär löst er zudem die zeitliche Kontinuität der beiden Parallelhandlungen auf, was der Zuschauer aber erst allmählich bemerkt, weil die Asynchronität zu logischen Brüchen in der Handlung führt, wodurch wiederum, durchaus innovativ, eine Suspense erzeugende Kommentarfunktion etabliert wird. Was auf den ersten Blick also als etwas uninspirierte Entführungsgeschichte anmutet, wird auf den zweiten Blick zum subtilen Soziogramm einer ideologisch leerlaufenden Gesellschaft, deren Widersprüche Gewalt produzieren. Zunächst scheint der Film eine trostlose Bebilderung der banalen kriminalstatistischen Tatsache, dass eine Entführung ein Verbrechen ist, bei dem der Täter kaum eine Chance hat, wenn er das Opfer am Leben lässt. Auf den zweiten Blick zeigt sich: Es ist der amerikanische Traum vom „land of the free, home of the brave“, der hier seine Kinder frisst.
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