Ein Zug fährt in einen Londoner Bahnhof ein. Düsterdeprimiert ist die Atmosphäre. Sie hat etwas Altmodisches, ein wenig Zeitloses, und wird sich während des Films nicht verändern. Inwieweit das, was man da sieht, von dieser Welt ist, das bleibt lange Zeit die Frage. Zunächst sieht man nichts. Menschenmassen steigen zwar aus dem Zug, viele von ihnen wirken wie Pendler, die jeden Morgen zu ihrer Arbeit hasten. Aber, das vermittelt der Film auf kaum merkliche Weise, es geht um anderes. Man wartet, erwartet noch etwas. Und ohne ihn überhaupt zu kennen, weiß man, dass man auf Spider wartet.
Wenn man Filme von David Cronenberg kennt, geht man mit ganz bestimmten Erwartungen in ein neues Werk von ihm, erst recht, wenn dieses „Spider“ heißt. So erwartet man fast selbstverständlich, irgendwann Spinnen zu sehen – sie kommen nicht vor! Cronenberg bricht auch mit vielen anderen Vorannahmen, und doch ist dies ganz und gar ein „Cronenberg-Film“ geworden. „Spider“ ist auch ein Spiel mit Handlungskonventionen, eine für diesen Regisseur typische Genre- Dekonstruktion, die das Genre im Kern erhält, aber seine Elemente so entfaltet, dass es kaum noch wiederzuerkennen ist. In diesem Sinne darf man den Film trotzdem einen Horrorfilm nennen, freilich einen Horrorfilm der anderen Art. Der Schrecken ist ins Innere verlagert, auch in das des Zuschauers.
Schon die ersten Bilder zeigen das: Die rätselhafte Eingangssequenz, während der die Filmcredits laufen, zeigt eine Folge von Fotografien roher Wände. Zum Teil ist die Farbe abgeblättert, zum Teil sind die Tapeten heruntergerissen. Ein merkwürdiger Eindruck, den man sich nicht sofort erklären kann. Erst wenn man genau hinschaut, entdeckt man das Geheimnis: Cronenberg hat Fotografien gespiegelt. Dadurch funktionieren sie wie Bilder von Rohrschachtests, wie Gesichter oder Muster, die schwer zu begreifen, aber in ihrer Mehrdeutigkeit äußerst faszinierend sind. Ein subtiler Anschlag auf das Bewusstsein des Zuschauers – wie der ganze, vorzüglich designte Film. Indem er die Analogie zu Rorschachtests wachruft, nimmt der Regisseur den Wahnsinn, die Doppeldeutigkeit, die im Zentrum seines Films steht, visuell vorweg. Er verankert durch die verrottenden Wände einen zweiten Eindruck im Unterbewusstsein des Betrachters – absoluter, unaufhaltsamer Verfall.
Danach folgt die beschriebene Szene auf dem Bahnhof. Nachdem alle Fahrgäste ausgestiegen sind, der Zuschauer – wie einer, der selbst am Bahnsteig jemanden abholen möchte –, viele Gesichter in der Erwartung abgetastet hat, einer von ihnen werde durch die Kamera hervorgehoben und sich als jener entpuppen, um den es geht, leert sich der Bahnsteig. Die Kamera schleicht am Zug entlang, bis eine Tür erreicht ist. Dann erst steigt er aus, oder besser, schiebt er sich aufs Gleis: Spider. Er ist unendlich langsam, schmutzig bis zur Verwahrlosung; dass auch in seiner Seele Chaos herrscht, erkennt man in wenigen Sekunden. Seine scheu umherkreisenden Blicke verraten es ebenso wie die Mimik, seine Bewegungen. Der Inhalt seiner Tasche, den man zu sehen bekommt, macht klar: Hier sieht man einen völlig auf sich gestellten Menschen, bar jeden inneren wie äußeren Halts. Der nackte Mensch an sich: verlassen, verstört, preisgegeben. Er hat das, was er hat, und das ist sehr wenig.
Es ist eine prototypische Figur, weniger ein Charakter als die Gestalt eines philosophischen Buchs, die Cronenberg ins Zentrum gestellt hat. Die Bücher, aus denen diese Figur stammt, sind weder die Schriften Freuds und seiner Nachfolger, keine komplizierten Abhandlungen über den Ödipus- Komplex, obwohl es hier um einen Sohn geht, den ein äußerst kompliziertes Verhältnis mit seinen Eltern verbindet, noch sind sie die antiödipalen Unternehmungen der Postmoderne. Es sind die Schriften von Sartre und Camus, und für den Existenzialismus hegt Cronenberg, der mehr ist als der postmoderne Regisseur der „Körpermedien“ und des „neuen Fleisches“, auf den er oft reduziert wird, eine Vorliebe. Spider ist ein „Fremder“, sein Weltverhältnis ist am ehesten mit der Hauptfigur aus Sartres „Der Ekel“ vergleichbar: ein Desorientierter, dem die einfachste Alltagshandlung zum Problem wird, dessen Bezug zur Welt durch Absurdität bestimmt ist. Faszinierend spielt ihn Ralph Fiennes, fast schweigend, mit stiller Schmerzintensität; einer, der von innen verbrennt.
Der Film beobachtet diesen Mensch an einigen Tagen. Diese verbringt er in einem Asyl für psychisch Gestörte, die man offenbar für die Außenwelt nicht weiter für gefährlich hält. Ganz sicher kann man da aber nicht sein, weil zunehmend unklar ist, ob sich das, was man sieht, in der „wahren Welt“ abspielt oder „nur“ in Spiders Kopf. Aber vielleicht ist ja hier die „wahre Welt“. Cronenberg hält diese Ebenen nicht auseinander. So mäandert man per Rückblick durch Spiders Vergangenheit, durchlebt seine Erinnerungen an die Eltern und den Tod der Mutter, realisiert, wie er dafür den Vater verantwortlich macht und zweifelt doch, ob man Spiders Erinnerungen überhaupt glauben darf. Damit ist der Film im mehrfachen Sinn hochaktuell: Es ist zum einen eine Abhandlung über den Komplex „Gedächtnis“ und „Erinnerung“, derzeit eines der meistdiskutierten akademischen Themen. Cronenberg illustriert nicht nur den Leidensdruck durch Verdrängtes, zugleich die Subjektivität allen Gedächtnisses und zeigt, dass man manches nicht vergessen kann; er plädiert zugleich auch gegen die Verklärung jedweder Form von Erinnerung. Etwas Verdrängtes ins Bewusstsein zurückzuholen, kann nicht nur schmerzhaft sein, es kann einen Menschen vernichten. Zugleich ist „Spider“ – der Film entstand bereits 2001 – ein frühes Beispiel für die derzeitige Kino-Mode, einen Film aus der Innenansicht eines möglichst verrückten, jedenfalls manipulierten Bewusstseins zu erzählen. Dabei gelingt ihm eine interessante und zwingende Aktualisierung des Existenzialismus, die aller Aufmerksamkeit wert ist. Schließlich ist „Spider“ ein einfühlsamer Film, dessen eindringliche Bilder im Betrachter weiterleben: das Porträt eines Mannes, der in einem geschlossenen System existiert, und der sich in seinem eigenen Spinnennetz längst verheddert hat. Freiheit, und hier unterscheidet sich Cronenberg von Sartre, ist da nicht mehr zu finden.